"Schmerzen gehören zu unserer Sportart dazu"

Vielversprechendes Konstrukt: Seit Kurzem fungiert Asklepios als Premium Partner des Handball Sport Vereins (HSV) Hamburg und stellt in diesem Zusammenhang auch das Medical Team.

Im gemeinsamen Interview sprechen Mannschaftsarzt und Sportorthopädie-Chefarzt Prof. Dr. Michael Hoffmann von der Asklepios Klinik St. Georg und HSV-Keeper Johannes Bitter über Verletzungsrisiken, Helmkonstruktionen und die Erwartungen an die neue Saison. (Interview: Janina Darm)

Herr Bitter, Erhebungen zufolge verletzen sich Handballspieler pro Saison im Schnitt 1,9 Mal. Was war Ihre bislang schlimmste Verletzung?
Johannes Bitter:
Ohne jeden Zweifel der Kreuzbandriss, den ich mir vor rund zehn Jahren in einem Champions-League-Spiel beim Zusammenprall mit einem gegnerischen Spieler zugezogen habe. Diese Verletzung wirkt auch heute noch nach: Ich kann zwar Handball spielen und habe keine großen Einschränkungen – das betroffene Bein ist aber nicht mehr dasselbe wie vorher. Das spürt man einfach. 

Ist es für Sportler:innen überhaupt möglich, nach solch einer gravierenden Verletzung 100 Prozent des Leistungsvermögens wiederzuerlangen, Herr Prof. Hoffmann?
Prof. Dr. Michael Hoffmann:
Der sogenannte „Return-to-sport“ erfolgt in der Regel auch beim Spitzensportler nicht auf dem Vorverletzungsniveau. Das hat unterschiedliche Ursachen. Bei Kreuzbandplastiken beispielsweise wird das Kreuzband aus körpereigenen Sehnen nachgebildet. Intakte Kreuzbänder unseres Körpers enthalten sogenannte Mechanosensoren. Diese geben Reize weiter und signalisieren dem Körper, wie und wo Knie und Unterschenkel im Vergleich zum Oberschenkel positioniert sind. Reißt das Kreuzband und ersetzen wir es durch eine Sehnenplastik, so fehlen diese Rezeptoren. Das bedeutet: Das Knie erhält zwar wieder Stabilität, aber man spürt einfach, dass es nicht das eigene Kreuzband ist. Insofern kann ich die Wahrnehmung von Johannes Bitter voll und ganz bestätigen: 100 Prozent des vorherigen Leistungsvermögens sind erfahrungsgemäß leider nicht erreichbar. 

Ist das auch der Grund dafür, dass viele Athlet:innen, sofern möglich, zunächst konservativ behandelt werden?
Hoffmann:
Ganz richtig. Man muss natürlich genau hinschauen, um welche Art von Verletzung es sich handelt. Es gibt Diagnosen, bei denen man einen Breitensportler operieren würde, während man bei einem Profisportler eher zurückhaltend agiert. Dies ist beispielsweise der Fall bei der Schulterluxation, besser bekannt als Ausrenkung des Schultergelenks, oder bei Erkrankungen der langen Bizepssehne im Bereich der Schulter. Durch ihre in der Regel stark ausgeprägte Muskulatur im Bereich der Schulter können Profisportler:innen im Vergleich zu Breitensportler:innen sehr viel kompensieren und stabilisieren und ihr eigentliches Leistungsvermögen weitgehend erhalten. Dementsprechend behandelt man Profi- und Breitensportler:innen dem Anforderungsprofil entsprechend individuell. 

Viele ehemalige Handballasse, die heute als Trainer agieren, leiden Jahrzehnte nach ihrer aktiven Karriere unter Rücken- oder Hüftproblemen. Droht Jogi Bitter ein ähnliches Schicksal wie Handball-Nationaltrainer Alfred Gislason, der 2017 an der Bandscheibe operiert werden musste, Prof. Hoffmann?
Hoffmann: Man muss ehrlicherweise sagen: Wenn man sich für Hochleistungssport entscheidet, setzt man bewusst seinen Körper ein. Damit ist schlichtweg ein gesundheitliches Risiko verbunden. Und beim Handball als Vollkontaktsport ist das Verletzungs- und Verschleißrisiko natürlich ungleich höher als bei anderen, den Körper weniger fordernden Disziplinen. Prävention, Trainingsoptimierung, muskuläre Stabilisation und Regeneration spielen deshalb eine wichtige Rolle, um das Risiko für Verletzungen und Verschleißerscheinungen zu reduzieren. Allerdings kann man den Körper nur bis zu einem gewissen Grad unterstützen und schützen. Dessen muss man sich als Aktiver bewusst sein.

Eistonne & Co. bringen am Ende also nicht viel?
Hoffmann:
Eistonne und Co. haben sicherlich ihren Stellenwert in der Behandlung. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt aber auch im Bereich der Verletzungsprophylaxe. Insbesondere im Hochleistungssport ergibt sich durch das Messen von Bewegungs- und Belastungsparametern bereits im Training die Möglichkeit, Trainingsintensitäten und -¬belastungen besser zu steuern. So nutzt der HSV seit Kurzem ein neues Kamera- und Trackingsystem, mit dessen Hilfe man verschiedene Parameter wie Laufgeschwindigkeit, Sprunghöhe und Co. nachhalten und die Trainingseinheiten daran anpassen kann. Die Kunst ist es letztlich, das ideale Maß aus Be- und Entlastung zu finden. Da hilft eine zahlenbasierte Trainingssteuerung im Sinne der Profilaxe und zur Vermeidung von Übertraining extrem weiter. Nichtsdestotrotz ist und bleibt Handball ein verletzungsintensiver Sport, und man setzt seinen Körper als Kapital ein. 

Apropos Körper und Kapital: Sie werden in Kürze 40 Jahre alt, Herr Bitter. Was sagt Ihnen Ihr Körper, wenn Sie morgens aus dem Bett aufstehen?
Bitter:
Na ja, ich spüre natürlich schon die eine oder andere Stelle… (lacht)
Hoffmann: … was allerdings auch für „Normalos“ gilt. Seit ich 38, 39 Jahre alt bin, tut mir morgens nach dem Aufstehen immer irgendetwas weh. Doch an dieser Stelle kann ich beruhigen: In einem Artikel hieß es einmal, wenn man über 38 Jahre alt ist und einem nichts wehtut, ist man tot. 
Bitter: Dann bin ich halbtot. (lacht) Aber im Ernst: Natürlich merke ich etwas und muss mich morgens – anders als früher – erst mal strecken und recken, um wieder flüssig in die Bewegung zu kommen. Richtige Schmerzen habe ich jedoch zum Glück nicht. Dann würde ich den Sport auch nicht mehr betreiben. 

Ihre Kinder dürfen demnach Handball spielen und werden nicht in den Schach-Club geschickt…?
Bitter:
Sie dürfen selbstverständlich frei entscheiden. (lacht)

Trainieren Sie eigentlich noch so viel wie vor 15 Jahren?
Bitter:
Nein, ich habe mein Pensum natürlich angepasst. Man lernt mit der Zeit, mit sich selbst umzugehen, kennt seine Problemstellen und weiß, wie man sich verhalten muss. Was inzwischen länger dauert, ist das Erwärmen. Damit fange vor einem Training deutlich früher an als die Jüngeren im Team. Bis ich wirklich warm bin, ist das Training fast vorbei. (lacht)
Hoffmann: Das ist wirklich eine spannende Beobachtung, die viele ältere Sportler:innen äußern: Der Körper wandelt sich über die Jahre. Im Alter setzt er leichter Fett an. Man muss sich länger dehnen, manche Stellen schmerzen, das Training ist nicht mehr so effektiv – dafür hat man im Vergleich zu Jüngeren jedoch eine recht gute Ausdauerkapazität. 

Ist Handball in gewisser Art und Weise auch Masochismus?
Bitter:
So habe ich das nie betrachtet… Aber als Handballer muss man natürlich schon so gepolt sein, dass man auch mal über seine Grenzen hinausgeht und weiß, dass man sich selbst und vielleicht auch dem Gegner irgendwann einmal Schmerzen zufügt. Das ist einfach etwas, das zu unserer Sportart dazugehört. Mit Freude am Schmerz hat das in dem Sinne jedoch nichts zu tun. (lacht)

Auch nicht, wenn man weiß, dass man als Keeper mitunter extrem harte Bälle ins Gesicht bekommt, die Geschwindigkeiten von 140 km/h erzielen?
Bitter:
Das ist in der Tat eine Besonderheit. Aber auch hier gilt: Das gehört einfach zum Spiel dazu, und wir Torhüter sind uns dieses Risikos natürlich bewusst. Just in diesem Bereich wurde nun allerdings eine Regeländerung vorgenommen: Wenn mir ein unbedrängt werfender Feldspieler mitten ins Gesicht bzw. auf den Kopf wirft, bekommt er künftig sofort eine Zwei-Minuten-Zeitstrafe. Ob uns diese Maßnahme wirklich besser schützt, wird man evaluieren müssen. Ich kann mir allerdings sehr gut vorstellen, dass es tatsächlich weniger Kopftreffer geben wird. 

Wäre es eine Option, dass Handball-Torhüter eine spezielle Helmkonstruktion tragen, um besser geschützt zu sein?
Bitter:
Sie meinen einen Petr-Čech-Gedächtnishelm? Darüber habe ich mir bislang keine Gedanken gemacht. In der Regel bekommt man den Ball ja auch eher direkt ins Gesicht. Da müsste man dann schon ein Visier tragen… 
Hoffmann: Aber auch in diesem Bereich gibt es Innovationen, die vielleicht eines Tages in den Ballsportarten zum Tragen kommen. So wird im Reitsport derzeit eine neue Helmvariante getestet, die vielversprechend klingt und vielleicht auch in anderen Disziplinen unterstützen könnte.

Das Verletzungspotenzial reduzieren könnte auch eine Anpassung und Entzerrung des vollgepackten Terminkalenders. Seit Jahren wird darüber diskutiert. Ist hier ein Wandel in Sicht, Herr Bitter?
Bitter:
Ich bin seit nunmehr 12 Jahren Gründer und Vorstandsmitglied des Vereins GOAL Deutschland, in dem wir uns unter anderem dafür einsetzen. Und vereinzelt tut sich tatsächlich etwas: Es wurde zum Beispiel auf ein Allstar-Game verzichtet. Vor Olympia duften die Spieler zudem eine Woche lang Urlaub machen – auch das ist neu. Aber grundlegende Veränderungen in der Terminplanung gibt es nicht. Würde man beispielsweise eine Europa- oder Weltmeisterschaft aussparen, fehlen den nationalen Verbänden wesentliche Einnahmen, über welche sie sich letztlich finanzieren. Man muss sicherlich immer wieder für dieses wichtige Thema sensibilisieren und daran erinnern, dass die Spieler das eigentliche Kapital des Sports sind. Doch wir sind auch Realisten und haben gelernt, mit dem Status quo zu leben.

Kommen wir auf die neue Saison zu sprechen: Was sind Ihre Erwartungen, Herr Bitter?
Bitter:
Das Saisonziel unterscheidet sich nicht von jedem des vergangenen Jahres: Wir wollen den Abstieg vermeiden, was nicht einfach wird, weil direkte Konkurrenten sich personell gut verstärkt haben und mit dem VfL Gummersbach beispielsweise eine Mannschaft wieder aufgestiegen und traditionell stark ist. Es wird also eine knackige Saison. Doch wir blicken ihr zuversichtlich entgegen. Unser Kader ist insgesamt etwas schlanker, in der Spitze allerdings stärker und erfahrener geworden. Dadurch haben wir eine solide Basis und unser Ziel klar vor Augen. 

Mit der SG Flensburg-Handewitt wartet allerdings ein extrem starker Auftaktgegner. Hätten Sie einen anderen Saisoneinstieg präferiert?
Bitter: Nein, wir stellen uns jeder Herausforderung. Und gegen Flensburg können wir völlig frei aufspielen. Der Druck liegt eindeutig auf der SG. Das allein kann schon eine Überraschung bewirken, und die Saison hält sicherlich viele bereit. 

Werden Sie bei jedem Spiel auf der Bank dabei sein, Prof. Hoffmann?
Hoffmann: Bei den allermeisten Heimspielen schon. Ansonsten verstehen wir uns in St. Georg als Team und werden bei der medizinischen Betreuung durchaus auch rotieren. 

Last but not least: Wird es Ihre letzte Saison zwischen den Pfosten sein, Herr Bitter?
Bitter: Nein, ich glaube nicht. (lacht)

Herr Prof. Hoffmann, Herr Bitter, vielen Dank für das Gespräch.

Bild: Gemeinsames Foto von Johannes Bitter und Prof. Dr. Michael Hoffmann für das Asklepios Interview zum HSVH
Johannes Bitter (l.) und Prof. Dr. Michael Hoffmann posieren im Rahmen eines medizinischen Routine-Check-ups des Weltmeisters von 2007 in St. Georg für die Kamera. © Asklepios

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