Aufklärung ist der Schlüssel

Dr. Udo Polzer möchte Hausärzte und Angehörige im Saale-Holzland-Kreis für das Thema Selbstmordgefährdung sensibilisieren.

„Komm, lieber Tod – Eine Serie für das Leben“ hat der gebürtige Westfale Stefan Lange seine YouTube-Serie überschrieben, die er unter anderem im Rahmen eines Infoabends des „Netzwerks Suizidprävention in Thüringen“ in Jena vorgestellt hat. Hierin verarbeitete der in der Schweiz Lebende seine Erfahrungen nach seinem überlebten Selbstmordversuch.

„Ein Phänomen, das wir häufig beobachten, ist, dass Patienten, die einen Suizidversuch überlebt haben, froh sind, dass es nicht geklappt hat“, erklärt Dr. Udo Polzer, Ärztlicher Direktor des Asklepios Fachklinikums Stadtroda und Chefarzt der Klinik für Allgemeine Psychiatrie/ Psychotherapie, Gerontopsychiatrie und Suchterkrankungen. Ein klares Plädoyer für das Leben, wie es Stefan Lange als Betroffener öffentlich hält, findet er begrüßenswert: „Am Thema Suizid darf nicht vorbeigeguckt werden, sondern es muss besprochen werden. Wenn ein Patient, der froh darüber ist, nicht verstorben zu sein, darüber aufklärt, ist das gut.“

Gemeinsam mit Kollegen des Universitätsklinikums Jena und der Thüringenkliniken Georgius Agricola in Saalfeld gehört Dr. Polzer dem im Vorjahr gegründeten „Netzwerk Suizidprävention in Thüringen“ („NeST“) an. Der Psychiater und Neurologe möchte neben den Angehörigen insbesondere auch Hausärzte für die Suizid-Problematik und entsprechende Warnsignale sensibilisieren. Im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung der Landesärztekammer in Jena informierte er niedergelassene Ärzte kürzlich über Ursachen, Risikoeinschätzung und rechtliche Aspekte.

Ziel des vom Bundesforschungsministerium finanzierten Präventionsnetzwerkes „NeST“ ist es, die Ursachen von Selbsttötungen zu bekämpfen. „Die Patienten, die nach Suizidversuchen zu uns ins Klinikum kommen, werden in das Programm aufgenommen“, erklärt Chefarzt Polzer: „Es werden einerseits die Beweggründe erfasst, also das, was den Patienten dazu motiviert hat, sich das Leben nehmen zu wollen. Andererseits erfassen wir, wie und wo der Patient sein Leben beenden wollte. Es geht also letztlich auch darum, bestimmte Hot Spots ausfindig zu machen.“

Das sind Plätze, an denen sich bereits mehrere Selbstmorde oder Suizidversuche ereignet haben. Ein Paradebeispiel hierfür sei die Golden Gate Bridge in San Francisco. Aber auch im Saale-Holzland-Kreis gibt es derartige Hot Spots, die Dr. Polzer aber aus Sorge um etwaige Nachahmer nicht benennen möchte. „Oft helfen hier schon einfache Sicherheitsmaßnahmen, wie etwa ein höheres Geländer, damit es nicht mehr so einfach ist, aus einer depressiven Grundstimmung heraus Selbstmord zu begehen“, sagt er.

„Patienten, die Suizidversuche dort überlebt haben, berichten oft im Nachhinein, dass das alles aus einem sehr spontanen Impuls entstanden sei, und sie sich schon in dem Moment, als sie gesprungen waren, klar darüber wurden, dass sie sich eigentlich nicht umbringen wollten“, berichtet Dr. Polzer. „Mit dem Präventionsnetzwerk NeST geht es uns darum, die Suizidalität zu verringern“, sagt er.

Im Bereich der Selbstmordversuche geht Dr. Polzer von einer hohen Dunkelziffer aus. „Wir gehen davon aus, dass die Zahl der versuchten Selbsttötungen etwa zwanzig bis dreißigmal höher ist als die der Selbstmorde“, sagt Dr. Polzer. Das bedeutet: 6000 bis 9000 versuchte Selbsttötungen können allein in Thüringen jährlich als wahrscheinlich gelten.

Thüringen liegt im Hinblick auf die Suizidrate bundesweit auf Platz fünf. Am häufigsten nehmen sich Menschen in Sachsen das Leben. Alle vier Minuten kommt es in Deutschland zu einem Selbstmordversuch; alle 45 Minuten gelingt ein solcher Versuch leider tatsächlich. Bundesweit sterben mehr Menschen durch Selbstmord als durch Verkehrsunfälle. Das sind Trends, die sich auch im Saale-Holzland-Kreis wiederspiegeln.

Seit 1980 sind die Suizidraten rückläufig – nicht zuletzt auch aufgrund der zunehmenden Enttabuisierung und der Sensibilisierung. Dennoch: „Suizide gab es schon immer“, sagt Dr. Polzer, der Suizidalität als „das Potential aller seelischen Kräfte und Funktionen“ beschreibt, „das auf Selbstvernichtung tendiert.“ Im Zusammenhang mit seinem seelischen Leid, dem er trotz Depression, Suchtneigung und vermindertem Selbstwert öffentlich die Stirn bietet, spricht auch Stefan Lange rückblickend von einem „Selbstzerstörungsprogramm“, das, einmal gestartet, „kein Halten“ kannte.

Suizid, erklärt Dr. Polzer, sei eine bewusste Willensentscheidung. Es handele sich um die zweithäufigste Todesursache bei den 15- bis 44-Jährigen und stehe in den meisten Fällen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung, wie einer Depression – oft mit zusätzlichem Suchtverhalten. Männer seien gefährdeter, weil von Hause aus aggressiver. „Suizid hat immer einen aggressiven Aspekt“, betont er.

Ursachen für Selbstmordgefährdung können Häufungen von Selbsttötungen in der Familie, genetische Dispositionen, Veränderungen der Impulskontrolle, psychische Erkrankungen sowie kulturelle und religiöse Einflüsse sein. Auslöser sind Krisensituationen, die die Betroffenen glauben, nicht bewältigen zu können. Sehr gefährlich, insbesondere bei Männern, sei die Gleichzeitigkeit von Trennung, beruflichem Misserfolg und sich steigerndem Alkoholkonsum.

„Angehörigen oder Hausärzten raten wir daher dringend, sich im Verdachtsfall an unsere Zentrale Aufnahme Psychiatrie zu wenden“, unterstreicht Dr. Udo Polzer – und verweist darauf, dass 40 Prozent aller Betroffenen eine Woche vor der Tat einen Hausarzt aufsuchen.

Kontakt:

Dr. Udo Polzer
Ärztlicher Direktor
Chefarzt der Klinik für Allgemeine Psychiatrie/ Psychotherapie,
Gerontopsychiatrie und Suchterkrankungen
Tel.: (036428) 56 1200
E-Mail: u.polzer@asklepios.com

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