Out of the box: SeitenWechsel

Einen besonderen Einblick in andere Lebenswelten bietet das Projekt SeitenWechsel. Im Rahmen eines Out of the box-Vortrags (OTB) am 23. März erfuhren die Studierenden am Asklepios Campus Hamburg der Semmelweis Universität (ACH) mehr über die Idee dahinter und die Möglichkeiten, die sich ihnen konkret bieten.

Plakat Out of the box Vortrag Seitenwechsel am ACH

Mit zu den schönsten Projekten am ACH zählen die, die von Studierenden selbst initiiert wurden oder werden. Haben sie dann auch noch – wie zum Beispiel die Studentische Poliklinik, kurz StuPoli - eine soziale Ausrichtung und das Zeug zu einem neuen Wahlpflichtkurs, sind die Chancen am Campus groß, finanziell sowie ideell unterstützt und möglichst zeitnah realisiert zu werden. So auch bei dem Projekt SeitenWechsel, auf das ACH Studentin Kristina Hillmann per Zufall gestoßen und damit vor einigen Wochen auf den Geschäftsführer der den ACH betreibenden Asklepios Medical School (AMS), Dr. Christoph Jermann, zugegangen war. Was sie zunächst nicht wusste: Dr. Jermann selbst hatte in einer früheren beruflichen Führungsposition sehr positive Erfahrungen als Seitenwechsler gemacht, und so lief Hillmann quasi offene Türen ein. Der Kontakt zu der Patriotische Gesellschaft von 1765 e.V. als Veranstalterin und dort zur Programmleiterin SeitenWechsel Deutschland, Elke Sank, war schnell hergestellt, ebenso ein genau auf den ACH und seine Studierenden zugeschnittenes Programm gemeinsam entwickelt.

Projekt bietet Mehrwert für alle

Out of the box Vortrag Seitenwechsel am ACH
ACH Studentin Kristina Hillmann - hier bei ihrer online-Begrüßung am 23. März - hat das SeitenWechsel-Programm für den ACH initiiert.

An der Kickoff-Veranstaltung am ACH, die am 23. März online als OTB-Vortrag und damit offen für alle Interessierten stattfand, nahmen zahlreiche Studierende aus allen Studienjahren teil. Zunächst begrüßte Dr. Jermann sowohl Elke Sank und ihre Mitarbeiterin Nina Carstensen sowie Axel Mangat, der als Leiter der Bahnhofsmission eine soziale Einrichtung mit häufigen Seitenwechslern vertrat. Er dankte ihnen allen für ihre Bereitschaft, den Abend zu gestalten und für ein Projekt zu werben, das ihm persönlich sehr am Herzen liege. Sein besonderer Dank galt Kristina Hillmann für ihr Engagement, ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen die Möglichkeit eines Seitenwechsels näher zu bringen. Ab diesem Moment lebte der Abend vor allem von den persönlichen Eindrücken und zitierungswürdigen Gedanken, die die Beteiligten des Abends freimütig teilten, allen voran Kristina Hillmann: „Das Projekt bietet meines Erachtens einen Mehrwert für jeden von uns. Wir sind alle so privilegiert und haben so tolle Chancen, dass wir uns um die kümmern sollten, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens leben. Ich empfinde es dabei als Geschenk vom ACH an uns, dass dieses neue Sozialprojekt neben der StuPoli finanziell durch den ACH unterstützt wird und auf Sicht sogar ein Wahlpflichtfach werden kann. Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn wir Euch begeistern könnten.“

Eigenes digitales Programm für den ACH

Out of the box Vortrag Seitenwechsel am ACH
Elke Sank zeichnet verantwortlich für die bundesweite Programmleitung.

Im Anschluss stellte Elke Sank ihren persönlichen Werdegang sowie ihre aktuelle Aufgabe als Vermittlerin zwischen Wirtschaft und Sozialbereich vor. Seit 2000 hätten sich bereits rund 3000 Führungskräfte auf einen einwöchigen Seitenwechsel eingelassen und als Teil eines Teams einer sozialen Einrichtung bewusst eine andere Perspektive eingenommen. Ziel sei dabei immer die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit und der Versuch gewesen, die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten zu stärken. Durch ein neues digitales Programm solle nun auch jungen Menschen in Ausbildung und Studium der Zugang zu dieser Erfahrung ermöglicht werden. Für den ACH seien speziell sechs sogenannte Dialog-Veranstaltungen konzipiert worden, die Ende April starteten. Die Referentinnen und Referenten hierfür kämen dabei aus den unterschiedlichsten sozialen Einrichtungen rund um Alkohol/Drogen, Wohnungslosigkeit, Behinderung, Strafvollzug, Hospizarbeit oder psychischer Erkrankung. Erst nach der Teilnahme an einem oder mehreren dieser Abende hätten ungefähr zehn Studierende die Möglichkeit, für eine Woche Teil eines Teams einer sozialen Einrichtung zu werden, die gemeinsam und unter Berücksichtigung aller individuellen Wünsche ausgesucht werde.

Wie wertvoll diese Erfahrung schon während der Studienzeit und auch für angehende Medizinerinnen und Mediziner sein könne, machte Elke Sank mit Worten deutlich, die echten Lebensweisheiten glichen: „Was uns alle in unserem Leben ausmacht, ist die Summe unserer Erlebnisse. Jemand, der sich besonderen Herausforderung gestellt hat, hat dabei die stärksten Erlebnisse. Es geht bei einem Seitenwechsel nicht darum, mitzuhelfen und in den Aktionsmodus zu kommen, sondern sich einer unbekannten Situation auszusetzen. Dabei reden wir nicht über die Menschen, sondern mit ihnen. Indem Sie dabei etwas von Ihrer Zeit geben, geben Sie vor allem eins: Wertschätzung. Meine Erfahrung zeigt, dass alle gestärkt aus dieser Woche herauskommen.“

"Nicht mithelfen, sondern sich aussetzen"

20200122-B1-Institutsleitung
Dr. Christoph Jermann hat 2004 als Geschäftsführer selbst Erfahrungen als Seitenwechsler gesammelt.

Was lag nach diesen Äußerungen näher, als Dr. Jermann in seiner Rolle als – wie Elke Sank es ausdrückte - „lebenden Seitenwechsler vor Ort“ nach seinen persönlichen Eindrücken zu fragen. Der Geschäftsführer hatte 2004 eine Woche in der Hamburger Krankenstube für Obdachlose in St. Pauli verbracht. Ausschlaggebend war für ihn damals der Rat eines Vorstands-Mitglieds in seiner damaligen Hochschuleinrichtung gewesen: Künftige Führungskräfte sollten wissen, welche drastischen Folgen ihre Entscheidungen für einzelne Menschen haben können. Wie wahr dieser Satz ist, erfuhr Dr. Jermann bei seinem Gespräch mit dem Typ Obdachlosen, den sein Ratgeber gemeint haben musste – ein Journalist, der durch einen Stellenabbau klassischerweise erst seinen Job, dann sein Haus, dann seine Frau verloren hatte. Dr. Jermann zog aus dieser und weiteren Begegnungen zwei take away-messages: „Erstens: Es hängt so sehr von Zufällen und Glück ab, wo wir stehen. Und es schafft Demut, wenn man sich vergegenwärtigt, wie schnell es gehen kann und von wie vielen externen Faktoren es auch abhängt, wo man im Leben steht. Zweitens: Ist diese Situation beim Seitenwechsel nicht ein Zoo-Erlebnis? Umgekehrt, eher war das Gegenteil der Fall! Ich selber fühlte mich anfangs wie auf der anderen Seite im Zoo. Aber es zeigte sich dann sehr schnell, gerade in einer solchen Situation weit jenseits der comfort zone, allein in einer Gruppe von Menschen, mit deren Biographien und Lebenslagen ich nur wenig gemein hatte, dass nur eines gilt und funktioniert: der ehrliche Austausch auf gleicher Ebene. Authentisch sein. Schweigen können. Zuhören können. Wertschätzend sein. Beim Seitenwechsel geht es nicht darum, mitzuhelfen und Gutes zu tun, sondern sich einer solchen Situation, sich der Konfrontation mit diesen Menschen und ihren Lebensgeschichten auszusetzen. Das ist für sich schon gut und wurde von denen, mit denen ich dort zu tun hatte, ganz deutlich geschätzt.“

Auch Institutionen profitieren von Seitenwechslern

Out of the box Vortrag Seitenwechsel am ACH
Axel Mangat, Leiter der Hamburger Bahnhofsmission, nimmt regelmäßig Seitenwechsler auf.

Nach Dr. Jermann als Seitenwechsler kam mit Axel Mangat von der Bahnhofsmission Hamburg der Betreuer von Seitenwechslern zu Wort. Seine Begeisterung für seine Tätigkeit war trotz des online-Formats mit Händen zu greifen. Am zweitgrößten Hauptbahnhof Europas (550.000 Reisenden pro Tag) sei die Bahnhofsmission eine wichtige Erstanlaufstelle für alle Menschen in sozialen Notlagen. Seine Aufgabe und die seiner 90 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden schilderte er mit warmen Worten: „Unsere Rolle ist, einfach immer da zu sein und rauszufinden, was das Problem ist. Wie eine Notfallambulanz. Wir versuchen, Vertrauen und Beziehung aufzubauen, um herauszufinden, wie wir jemandem helfen oder wohin wir ihn oder sie weitervermitteln können. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Einsamkeit so schlimm ist wie Hunger. Also hören wir zu und sind in diesem Moment ein Gegenüber. Kein Tag ist wie der andere. Die Aufgabe unserer christlichen Einrichtung ist also vor allem eins: Nächstenliebe praktizieren. Wir helfen einfach immer dem Nächsten, der Hilfe braucht, ohne zu wissen, wer es ist. Dabei tun die Seitenwechsler, die regelmäßig zu uns stoßen, unserer alten und traditionellen Einrichtung mit ihren Impulsen und Fragen gut. Denn Reflektion hilf uns, uns jung zu halten. Aber auch für unsere Mitarbeitenden sind diese Begegnungen wichtig: Sie merken: Aha, jenseits einer Profession oder einer Disziplin steckt ein Mensch, der eine Rolle ausfüllt, und der eine andere Seite der Gesellschaft und von sich kennenlernen möchte.“

Bei einem letzten Zitat waren sich Elke Sank, Axel Mangat und Dr. Christoph Jermann aus ihren drei unterschiedlichen Perspektiven einig: „Den Seitenwechsel, das versprechen wir, den vergisst man nicht“.

Seite teilen: