RV 25: Interdisziplinäres Geriatrisches Zentrum Wiesbaden

Dr. med. Norbert Schütz, Chefarzt der Allgemeinen Inneren Medizin, Geriatrie und Frühhabilitation der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden, war am 12. Dezember Referent der 25. Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH.

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Prof. Dr. med. Karl J. Oldhafer war wieder Gastgeber bei der 25. Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH.

Begrüßt und vorgestellt wurde der aus Wiesbaden zugeschaltete Referent durch Prof. Dr. Karl J. Oldhafer, Repräsentant des Rektors der Semmelweis Universität sowie des Dekans von deren Medizinischer Fakultät am Asklepios Campus Hamburg (ACH). Als Gastgeber des Abends dankte er dem Chefarzt, dass er sich für das Format der Online-Ringvorlesung zur Verfügung gestellt habe. Das Thema Geriatrie gewinne zunehmend an Bedeutung und sei daher besonders wichtig für die nächste Generation an Ärzt:innnen. Dr. Schütz gab zunächst seiner Freude darüber Ausdruck, an der Ringvorlesung beteiligt zu sein. Er selbst habe bei Studierenden immer wieder bei ihrem Erstkontakt mit diesem Fachbereich im Rahmen eines Blockpraktikums den Aha-Effekt erlebt, dass in der Geriatrie – wie er es ausdrückte - „nicht einfach nur alte Patienten herumlägen.“

Patienten werden immer älter, Fälle immer komplexer

Dr. Norbert Schütz Asklepios
Dr. med. Norbert Schütz ist Chefarzt der Allgemeinen Inneren Medizin, Geriatrie und Frühhabilitation der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden.

Was macht den Fachbereich Geriatrie so besonders? Warum ist das Konzept des Exzellenzzentrums in Wiesbaden so gut? Wie funktioniert Geriatrie in Corona-Zeiten? Diesen Fragen widmete sich der Referent in den folgenden 90 Minuten. Die Wichtigkeit seines Fachbereichs auch für die zuhörenden Studierenden unterstrich Dr. Schütz mit einer einfachen statistischen Erkenntnis: „Wenn Sie heute 30 sind, werden die Männer unter Ihnen im Schnitt 94 und die Frauen 98 Jahre alt. Sie sehen, unsere Patienten werden immer älter und die Fälle gleichzeitig immer komplexer.“ Während bei jüngeren Patienten eine klare Trennung zwischen „gesund“ und „krank“ möglich sei, überlappten bei älteren Patienten oft akute und chronische Probleme. Bei all diesen Patienten müssten besonders die normalen somatischen Altersveränderungen (u.a. Abbau der Muskelmasse, Veränderung des Stoffwechsels, Reduzierung der Anpassungsfähigkeit des Organismus) sowie die psychosozialen Veränderungen (u.a. Angstphänomene, existentielle Bedrohung, atypische Symptomenpräsentation, mangelnde soziale Teilhabe, Vereinsamungstendenzen, Vulnerabilität) betrachtet werden. Aufgabe der Geriatrie sei, die biologisch älteren Patienten, die meist in einer instabilen Situation seien und zu einer Multimorbilität neigten, überhaupt zu erreichen. „Aber biologisch älter ist relativ: Mein aktuell jüngster Patient ist 46, der älteste 106“, berichtet Dr. Schütz und fährt fort: „Eine in Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg durchgeführte Erhebung für den Raum Wiesbaden hat gezeigt, dass die Hauptmotivation für eine Selbsteinweisung, aber auch die ärztliche Einweisung älterer Patienten die soziale Vereinsamung ist - das muss einem schon zu denken geben.“

Akutbehandlung enthält bereits Reha-Maßnahmen

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Um die Geriatrie besser einordnen zu können warf der Referent einen Blick auf ihre Entstehungsgeschichte: Im Jahr 1908 besuchte der US-amerikanische Arzt Ignatz Leo Nascher, der Begründer des Begriffs für diesen noch jungen Fachbereich, ein Versorgungsheim in Lainz/Österreich. Dort fiel ihm die für die damalige Zeit ungewöhnlich geringe Sterberate der Bewohner auf. Ein in dem Ort tätiger Arzt begründete dies damit, dass man die Insassen so betreue, wie ein Pädiater seine Kinder. Dieser Ansatz erklärt die namentliche Anlehnung an die Pädiatrie. In Deutschland gab es allerdings erst 1970 den ersten Lehrstuhl, 1992 folgten erste Weiterbildungsmaßnahmen. Drei Jahre zuvor hatte das damalige Gesundheitsreformgesetz dem Postulat „Reha vor Pflege“ den Weg geebnet. Seither konnten Reha-Maßnahmen in die Akutbehandlung einfließen. Dieser Ansatz präge auch das Interdisziplinäre Geriatrische Zentrum mit seiner Komplexbehandlung: „Bei uns sind ab dem ersten Tag auch im akut-medizinischen Zustand rehabilitative Komponenten integriert“, erklärt Dr. Schütz. „Zum Glück dürfen wir in unserer Akutklinik „fallabschließend“ behandeln, das heißt, wir integrieren funktionell-rehabilitative Therapien in die (teil-) stationäre geriatrische Behandlung. Hierdurch werden typische Probleme der Überleitung akutstationärer in rehabilitative Versorgung vermieden.“

Soziale Wiedereingliederung ist "Herkulesaufgabe"

Sozialdienst

In einem geriatrischen Team unter fachärztlicher Behandlungsleitung arbeiten neben den Ärztinnen und Ärzten Mitglieder der unterschiedlichsten Berufsgruppen (Sozialberatung, Seelsorge, Physiotherapie, Ergotherapie, Ernährungsberatung, Psychologie, Pflege, Logopädie) zusammen. Ein standardisiertes geriatrisches Assessment zu Beginn der Behandlung überprüft zunächst in mindestens vier Bereichen die Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Kognition und Emotion. „Hier und bei weiteren Therapiebesprechungen im Laufe der Behandlung gibt es bei Teamsitzungen auch für uns immer wieder Aha-Effekte – jede Berufsgruppe hat eine andere wertvolle Sichtweise auf die Patienten und Behandlungen, da können wir viel voneinander lernen. Das ist das, was mir in der Geriatrie so viel Freude macht“, beschreibt der Chefarzt sein Tätigkeitsfeld. Grundsätzlich gelte: Eine gute Pflege, die auf der Kenntnis des physiologischen Altersprozesses ruhe, mache den Unterschied. Großes Ziel sei immer, die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederherzustellen, zu verbessern oder zu erhalten. „Mein Tipp: Gehen Sie mal auf Station mit einem Therapeuten mit. Da werden Sie sehen, welcher wichtige Beitrag geleistet wird, damit Menschen bestenfalls eines Tages wieder in ihrem Alltag klarkommen“, so die wertschätzenden Worte von Dr. Schütz. Die Therapie leiste zusammen mit dem Sozialdienst die Haupt-Arbeit im Team. Gerade die Hilfe bei der sozialen Wiedereingliederung sei in seinen Augen eine wahre „Herkulesaufgabe“.

Ziel: Wiederherstellung der Lebenszufriedenheit

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Die Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden ist als Alterstraumatologisches Zentrum in das Akutkrankenhaus integriert. Außerdem sorgen ein voll- bzw. teilstätionäres Zentrum in Rüdesheim und eine Tagesklinik in einem Seniorenzentrum in Wiesbaden für eine wohnortnahe Versorgung. Ergänzt wird das Angebot durch eine mobile Rehabilitation sowie die sogenannte Memory Klinik, die bei Verdacht einer Demenzerkrankung konsultiert werden kann. In Pandemie-Zeiten konnte die Klinik gerade ihre besonders gefährdeten Patienten, deren Problem vor allem das alternde und dadurch geschwächte Immunsystem ist („Immunoseneszenz“), mit einem umfassenden Hygienekonzept und täglicher Testung schützen. Gerade die mobile Reha konnte ohne Unterbrechung fortgesetzt und die Tagesklinik nach kurzer Schließung weitergeführt werden. Fazit von Dr. Schütz: „Mit so einem Konzept kommt man gut durch die Pandemie.“ Seinen Vortrag beendete der Chefarzt mit einem Bekenntnis: „Uns Geriater eint die Sicht auf den Patienten, ihn in seiner Komplexität und Multimorbidität zu sehen, ihn abzuholen und ihn möglichst in sein Umfeld zurückzuführen. Dabei geht es uns nicht darum, zwingend den Patienten gesund zu machen, sondern Lebenszufriedenheit wiederherzustellen. Hier sehen wir uns als Hilfe, Unterstützer und Anwalt für die alten Patienten.“ Wer sich von den Studierenden am ACH durch diesen empathischen Schlusssatz angesprochen fühlte, durfte sich über den Nachtrag von Dr. Schütz freuen: „Famulanten sind bei uns immer willkommen. Bei uns lernen sie die Arbeits- und Denkweise in der Geriatrie nicht nur kennen, sondern bestimmt auch schätzen.“

Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH

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