Lehrstuhlinhaber der Universität Zürich referiert über Gefährdungen und Voraussetzungen der Demokratie

Eingeführt von einem Fachkollegen von der Bucerius Law School, hielt Prof. Dr. iur. Matthias Mahlmann von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich am 15. Oktober am Asklepios Campus Hamburg (ACH) einen Vortrag im Rahmen der neuen Veranstaltungsreihe „out of the box events“.

 

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Prof. Dr. iur. Jens Prütting., Prof. Dr. iur. Matthias Mahlmann sowie Dr. Christoph Jermann (v.l.n.r.)

Bei seiner Begrüßung der Teilnehmer und Gäste erinnerte Dr. Christoph Jermann, Geschäftsführer der Asklepios Medical School, daran, dass der Blick über den Tellerrand zu den festen Bestandteilen des Studiums am ACH gehört. Nicht nur ist es Tradition, zu regelmäßigen Veranstaltungen wie Semestereröffnung, Sommerfest, Weihnachtsfeier oder Alumi Event einen profilierten externen Referenten mit einem nicht-medizinischen Thema einzuladen, sondern es werden in unregelmäßigen Abständen auch gesonderte Abendveranstaltungen zu einem breiten Themenspektrum angeboten. Diese Veranstaltungen sollen in Zukunft neben den Ringvorlesungen als eigene Reihe unter der Überschrift „out of the box events“ laufen.

Den Anfang machte am 15. Oktober Prof. Dr. iur. Matthias Mahlmann mit einem Vortrag zum Thema "Endspiel der politischen Autonomie? Die Idee des Verfassungsstaats und die Verführungskräfte der illiberalen Demokratie". Prof. Mahlmann hat den Lehrstuhl für Philosophie und Theorie des Rechts, Rechtssoziologie und Internationales Öffentliches Recht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich inne und wurde passend von dem Fachkollegen und ACH Dozenten Prof. Dr. iur. Jens Prütting von der Bucerius Law School vorgestellt.

Weiteres Highlight einer lebendigen Kooperation

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Einführung durch Prof. Prütting von der Bucerius Law School

Prof. Prütting gab in seiner kurzen Einführung seiner Freude über dieses weitere Highlight der lebendigen Kooperation zwischen Asklepios / Asklepios Medical School und Bucerius Law School Ausdruck. Im Blick auf den Gast aus der Schweiz mit Hamburger Wurzeln hob er hervor, dass Prof. Mahlmann vor seinem Jurastudium und seiner akademischen Karriere als Jurist ein volles Philosophiestudium absolviert habe. An seiner Vita seien außerdem nicht nur das Heisenberg-Stipendium der DFG, die zahlreichen Publikationen, die vielen internationalen Gastprofessuren an namhaften Universitäten – unter anderem der Central European University in Budapest – beeindruckend, sondern auch sein vielfältiges und prominentes außeruniversitäres Engagement in ethischen und wissenschafts-, rechts- und staatspolitischen Angelegenheiten, die mit dem Thema des Abends zu tun hätten. Schließlich wies Prof. Prütting scherzhaft darauf hin, dass er sich auf die Rechtsphilosophie-Prüfung im Staatsexamen mit der zweiten Auflage des Buchs "Rechtsphilosophie und Rechtstheorie" von Prof. Mahlmann vorbereitet habe, das in diesem Jahr bereits in fünfter Auflage erscheinen werde.

Wichtige Themen verständlich dargestellt

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Im Auditorium saßen sowohl Studierende vom ACH als auch von der Bucerius Law School.

Prof. Prüttings Werben war es zu verdanken, dass auch das Publikum zur out of the box Idee passte, nicht nur Referent und Thema, denn mit ihm hatten auch eine Reihe von Studierenden der Bucerius Law School den Weg an den ACH gefunden und füllten zusammen mit vielen ACH Studierenden aus allen Jahrgängen den Hörsaal. Natürlich waren für die Bucerius Studierenden die rechtlichen und rechtsphilosophischen Begriffe, Theorien und Argumente leichter zu erfassen als für die ACH Studierenden, was sich etwa an den Redebeiträgen der angeregten Fragerunde und Diskussion nach dem Vortrag zeigte. Aber auch die Medizinstudierenden folgten gebannt dem Vortrag, meldeten sich anschließend zu Wort und waren insgesamt sichtlich beeindruckt von dem, was sie an dem Abend hörten und erlebten.

Das war das Verdienst von Prof. Mahlmann. Er verstand es zum einen meisterhaft, komplexe Themen und anspruchsvolle Theorien weder zu wissenschaftlich noch zu oberflächlich, sondern auch für philosophisch und juristisch weniger vorgebildete Zuhörer verständlich und interessant und zugleich doch mit dem angemessenen Gewicht darzustellen und in ihrem Zusammenhang zu erklären. Zum andern schaffte er es, feste Überzeugungen, klare Stellungnahmen, stringente Begründungen, schlagende Beispiele und historische Parallelen einerseits und andererseits grundsätzliche Fragen, selbstkritische Reflexionen, freimütig eingeräumte Ratlosigkeiten und offene Aufforderungen zu Widerspruch und Dialog so natürlich und glaubhaft miteinander zu verbinden, dass eine fast mit Händen zu greifende Nachdenklichkeit und Konzentration auf die angesprochenen großen und wichtigen Themen den Raum erfüllte. Von Anfang bis Ende bewegte sich alles auf einem bemerkenswerten Niveau von rationalem und respektvollem Austausch und von ernsthafter gemeinsamer Suche nach Lösungen, nach dem common ground, dem besten Argument, dem bestmöglichen und vertretbaren Konsens oder Kompromiss. Es hätte für das, was Prof. Mahlmann sagte und worauf es ihm in seinen Thesen hauptsächlich ankam, kaum eine schönere und einnehmendere Veranschaulichung in vivo geben können als eben unmittelbar das, was er durch sein Rede- und Gesprächsverhalten und seine Gestaltung des Abends tat und zeigte.

Demokratie braucht Mut und Überzeugung

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Prof. Mahlmann hob die Rolle der Universitäten als Räume für den vorbehaltlosen rationalen Diskurs hervor.

Denn das war am Ende die Pointe und das Fazit: Demokratie lebt und überlebt nur, wenn sie gelebt wird, von vielen Einzelnen und in jeder Lage, mit Mut und Überzeugung. Und Demokratie zu leben heißt im Kern, bereit zu sein zum vorbehaltlosen rationalen Diskurs, nicht zuletzt über die Voraussetzungen der Demokratie selbst. Dafür, so Prof. Mahlmann, sind die Universitäten wichtige Räume, wenn sie solche Veranstaltungen wie eben diese organisieren und dadurch Freiräume schaffen, wo unterschiedliche Meinungen rational und respektvoll vorgebracht, tatsachenbasiert und wahrheitsorientiert gegeneinander abgewogen und sachbezogen argumentierend diskutiert werden können. Wo die Bereitschaft gelebt wird, die Voraussetzungen, die innere Stimmigkeit, die Folgen des eigenen Standpunkts selber in Frage zu stellen oder von anderen kritisieren oder relativieren zu lassen, aus Interesse am Dazulernen und an einer bestmöglich begründeten Position. Wo Fragen nachgegangen wird auch auf die Gefahr hin, dass man der Sachlogik folgend an einen Punkt kommt, an dem man sich dem Anspruch ausgesetzt sieht, seinen Standpunkt und sein Verhalten zu ändern oder schmerzhafte, aber vernünftige Kompromisse einzugehen. Demokratie ist eine Haltung.

Warum ist es wichtig, das zu betonen? Weil – so erläuterte Prof. Mahlmann anhand zahlreicher Beispiele – zusehends zu beobachten ist, dass die rechtsstaatliche Demokratie unter Beschuss kommt und in eine Krise gerät: Aushöhlung der Demokratie durch Angriffe auf Rechtsstaat und Gewaltenteilung; Beschneidung von Grund- und Menschenrechten; Gefährdung des Qualitätsjournalismus und Manipulation der öffentlichen Meinung; Konsolidierung und Expansion autoritärer Systeme.

Krisensymptome zeigen Tendenz einer Selbstzerstörung der Demokratie

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Out of the box events sind fester Bestandteil des Lebens am ACH.

Aber warum ist überhaupt Demokratie so wichtig? Es ist doch offensichtlich, dass sie allerorten viele Mängel hat und wichtige Probleme nicht in den Griff kriegt? Ließen sich etwa das Umweltproblem oder das Armutsproblem nicht im Rahmen autoritärer Staatsformen eher lösen? Prof. Mahlmann räumte ein, dass hier autoritäre und/oder technokratische Regimes grundsätzlich wahrscheinlich schneller Abhilfe schaffen könnten. Dieser kurzfristigen Perspektive hielt er aber den autoritären Systemen inhärenten Mangel an Selbstkorrekturmechanismen entgegen, der sich früher oder später rächt. Und selbst dem optimistischsten Szenario eines aufgeklärten Autokraten hielt Prof. Mahlmann die Frage nach dem längerfristigen Preis entgegen.

Denn was ist Demokratie, worin wurzelt sie? Demokratie ist nach der Definition von Prof. Mahlmann die „politische Organisation der Autonomie des Menschen“. Sie vollzieht sich als „offener Prozess der möglichen Selbstkorrektur“. Sie bezieht ihre Legitimation aus der „Würde des Menschen als selbstbestimmendem Wesen“. Und sie hat ihre tiefste Wurzel und Existenzbedingung in der „inneren Freiheit des Denkens“, in „politischer Willensbildung, die auf guten Gründen beruht“, in „selbstbewusstem Respekt vor Anderen“ und darin, „den Unterlegenen sicher und beruhigt zu machen“. In den Menschenrechten also.

Demokratie ist als Staatsform der Idee nach die politische Ausprägung zentraler Wesensbestimmungen des Menschen – autoritäre Staatsformen widersprechen diesen Wesensbestimmungen theoretisch und unterdrücken sie praktisch. Aber leider nicht nur autoritäre Staaten. Unter der Überschrift „Krisensymptome der Reflexion“ erläuterte Prof. Mahlmann – wiederum anhand zahlreicher Unterpunkte und aktueller Beispiele – Entwicklungen in heutigen Demokratien, die sich gegen die genannten Voraussetzungen der Demokratie richten und somit die Tendenz einer Selbstzerstörung der Demokratie zeigen. Als wichtigste Symptome bzw. Syndrome nannte er: „Zweifel an ‚Wahrheit’, ‚Richtigkeit‘, ‚Gerechtigkeit‘“; „nationalistische, xenophobe, ‚illiberale‘ Demokratie“; „Emanzipation erfolgreicher Politik von Fakten“. Die Treiber dieser Entwicklungen sieht Prof. Mahlmann in einer breiten Palette von Wünschen, die sie bedienen: Vereinfachung der Welt; Finden von Sündenböcken; Ausleben von Ressentiments; Entlastung von schwierigen Auseinandersetzungen; Befreiung von den Bürden der eigenen Urteilsbildung; Gewinnung von Selbstbewusstsein, Anerkennung, Zugehörigkeit, Macht; „Gemütlichkeit des kollektiven Selbstbetrugs“.

„Sind wir ein für die Demokratie und Menschenrechte unempfängliches Geschlecht?“, fragt Prof. Mahlmann deshalb provokant in Anlehnung an eine Stelle in Schillers Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen". Handelt es sich um eine Krise der Moderne? Eine Krise der Fortschrittsidee? Eine Krise unseres abendländischen Zivilisationsentwurfs?

Aktuelle Herausforderungen und mögliche "Gegengifte"

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Prof. Mahlmann lieferte besten Anschauungsunterricht zur Gegenwehr gegen die Zersetzung der Wurzeln der Demokratie.

Die Fragen blieben offen, genauso, wie die Fragen offen bleiben mussten, ob die Demokratie es schaffen wird, ihre Selbstzerstörung zu verhindern, ob die Menschheit es schaffen wird, ihre Selbstzerstörung zu verhindern. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Nicht leichthin, und doch trotz allem mit innerer Überzeugung sprach Prof. Mahlmann von „Herausforderungen“ und listete „Gegengifte“ gegen die äußere Bedrängung und innere Zersetzung der Demokratie auf. Die letzte Aussage auf seiner letzten Folie lautete: „Anschauung des Besseren in einer alltäglichen Praxis als bestes Antidot“.

Das Zitat aus Schillers Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" war keine bloße Dekoration. Nach der bekannten Definition in Hegels Ästhetik ist das Schöne „das sinnliche Scheinen der Idee“. Der Abend mit Prof. Mahlmann, die Art seiner Gedanken und des Vortrags und des Gesprächs, war selber im Sinne seines „besten Antidots“ bester Anschauungsunterricht zur alltäglichen Praxis der Gegenwehr gegen die Vergiftung und Zersetzung der Wurzeln der Demokratie. So betrachtet war dieser Abend selber eine Art Kunstwerk, im besten Sinne ein ästhetischer Genuss – und ganz sicher ein gelungener und wichtiger Blick über den Tellerrand einer medizinischen Hochschuleinrichtung hinaus.

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