RV 29: Interdisziplinäres Wirbelsäulenzentrum

Prof. Dr. med. Thomas Niemeyer, Chefarzt des Wirbelsäulen- und Skoliosezentrums in der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden, hat am 6. Mai das Finale der Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH bestritten.

29. Ringvorlesung am ACH Prof. Thomas Niemeyer
Prof. Dr. med. Thomas Niemeyer, Chefarzt des Wirbelsäulen- und Skoliosezentrums in der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden

„Gerade durch das Leben gehen“ – dieses Motto beschreibt in wenigen Worten das Ziel aller medizinischen Behandlungen, die das Wirbelsäulen- und Skoliosezentrum in Wiesbaden anbietet: Neben degenerativen Erkrankungen wie Bandscheibenvorfällen oder Spinalen Stenosen (Verengungen des Wirbelkanals) betrifft dies vor allem Wachstumsdeformitäten der Wirbelsäule wie die Skoliose (dreidimensionale Verdrehung der Wirbelsäule) oder die Kyphose (dorsale Krümmung der Wirbelsäule). Daneben werden in dem Exzellenzzentrum aber auch Entzündungen und Tumore ebenso wie Verletzungen der Wirbelsäule aufgrund eines Traumas oder einer Osteoporose behandelt. Ursache einer Skoliose können neuromuskuläre oder Bindegewebserkrankungen sein, ebenso angeborene knöcherne Fehlbildungen. Skoliosen, deren Ursache unbekannt sind, werden als ‚idiopathisch‘ bezeichnet. Prof. Dr. med Thomas Niemeyer legte den Schwerpunkt seiner Vorlesung am 6. Mai auf diese bei Jugendlichen auftretende Form, die sogenannte Adolescente idiopathische Skoliose (AIS). Diese entstehe bzw. verschlechtere sich im Zuge des verstärkten Körperwachstums, besonders bei pubertären Wachstumsschüben (im Schnitt im Alter von 15 bis 16 Jahren) und könne schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Viermal mehr Mädchen wie Jungen seien betroffen – woran das liege, sei unklar.

Eltern und Kindern die Sorge vor der OP nehmen

29. Ringvorlesung am ACH

Die Skoliose ist ein seltenes Krankheitsbild. Deshalb betonte der Wirbelsäulenspezialist in seinen Ausführungen die Notwendigkeit, AIS-Fälle rechtzeitig vorzustellen: „Gerade in der Kinderorthopädie ist es wichtig, eine Skoliose früh zu erkennen, den Verlauf intensiv zu prüfen und rechtzeitig mit der Therapie zu beginnen.  Neben der klinischen Untersuchung kann durch die Betrachtung der Wachstumsfugen am Skelett festgestellt werden, wie sich der natürliche Verlauf der AIS gestaltet und ob die Gefahr einer Zunahme der Skoliose durch weiteres Skelettwachstum besteht. Neun von zehn Skoliosen müssen überhaupt nicht operiert werden, sondern könnten konservativ mit Hilfe der Physiotherapie nach Katharina Schroth und in Kombination mit einem Korsett, einer sogenannten Orthese, behandelt werden. Aber bei 40 Grad und mehr ist meist eine OP ratsam und auch möglich.“ Sein Ziel sei es immer, gerade den Eltern die Sorge vor dem Eingriff zu nehmen. Eine 50-Grad-Skoliose sei besser und sicherer zu operieren, als eine noch stärkere Krümmung. Ab 80 Grad werde außerdem die Funktion der inneren Organe eingeschränkt. „Aber eine 80- oder 90-Grad Skoliose kommt nicht über Nacht. Je eher die Kinder vorstellt und gegebenenfalls operiert werden, desto sicherer und weniger belastend ist es für sie und desto eher sind sie wieder mitten im Leben.“

Jahrelange Versuche der konservativen Therapie oft nicht erfolgreich

29. Ringvorlesung am ACH

Zu Prof. Niemeyer kämen viele Jugendliche, die lange und fast rund um die Uhr ein Korsett tragen müssten. „Wir sollten diese Therapieform immer wieder überprüfen und auch in Frage stellen“, bewertete der Chirurg diese Behandlungsmethode. „Leider erleben Patienten immer wieder, dass jahrelange Versuche, mit Hilfe der konservativen Therapie die Zunahme aufzuhalten, nicht erfolgreich sind. Einer der Gründe ist die fehlende Kenntnis der Behandler über die Prognose, d.h. zuverlässige Faktoren und Parameter, die eine Zunahme begünstigen, sind noch nicht alle erforscht und stehen uns nicht ausreichend und mit Sicherheit zur Verfügung. Die Verbesserung dieses Wissens wird dazu führen, dass wir genauer vorhersagen, wie sich der Verlauf gestaltet, um damit den Kindern und Jugendlichen mit einer „schlechten“ Prognose, eine langjährige konservative Therapie ersparen zu können." Auch andere Faktoren wie zum Beispiel Angst vor möglichen Komplikationen bei einer Skolioseoperation und eventuelle Langzeitfolgen oder auch fehlende Therapiemöglichkeiten in ärmeren Ländern außerhalb Europas könnten den Zeitpunkt der Entscheidung für eine Operation beeinflussen. Immer wieder erlebe der Spezialist in den Sprechstunden, wenn die Familien hören, dass die Kinder und Jugendlichen nach der OP kein Korsett mehr tragen müssen, und dass sie schon bald nach der OP wieder mobil sind, die Ängste weniger werden, und die Patienten Vertrauen bekommen.

Entlassung bereits nach wenigen Tagen

29. Ringvorlesung am ACH Prof.

Die heutigen OP-Methoden und -Verfahren sind dank der hervorragenden Implantate, der 3D Bildgebung prä- und intraoperativ und der Erfahrung in Skoliose Zentren wie Wiesbaden sehr sicher und gut. Bei der Mehrzahl der Patienten kommt eine Korrekturspondylodese zum Einsatz, d.h. die Skoliose wird um 60-90% korrigiert (begradigt) und versteift. Damit wird sichergestellt, dass die Skoliose nicht wieder zunehmen kann und die volle Belastbarkeit der versteiften und der verbliebenen beweglichen Abschnitte besteht. Neben der Möglichkeit einer knöchernen Versteifung, für die ein einziger operativer Eingriff nötig sei, werden im Falle einer sehr frühen kindlichen Skoliose auch wachstumslenkende Verfahren mit Teleskopstäben oder das VBT (Vertebral Body Tethering, also ‚Anbindung mit einem Seil‘) angewendet. Damit soll das Wachstum des operierten und korrigierten Abschnitts der Wirbelsäule „gelenkt werden“ mit dem Ziel, das Potential für das Längenwachstums auszunutzen und eine frühe Versteifung zu verhindern. Leider liegen für diese Verfahren noch keine Langzeitdaten über die Zuverlässigkeit und Sicherheit wie für die Korrekturspondylodese vor. Nicht selten folgt nach der „Wachstumslenkung“ die abschließende Spondylodese (Versteifung), um das erreichte Ergebnis zu sichern.  Für alle Verfahren gilt, dass die jungen Patien:innen nach fünf bis sieben Tagen stationärem Aufenthalt entlassen werden. Nach drei Monaten können sie mit leichtem Sport wie Schwimmen und Radfahren beginnen, bereits nach sechs Monaten sei in der Regel eine Teilnahme am Schulsport wieder möglich.

Finale der Ringvorlesung nach dreieinhalb Jahren

29. Ringvorlesung am ACH

Prof. Niemeyer, der zuvor bereits als Chefarzt der Wirbelsäulen- und Skoliosechirurgie in der Asklepios Klinik St. Georg gearbeitet hatte, ist 2017 nach Wiesbaden gewechselt mit dem Ziel, den dortigen Schwerpunktbereich auszubauen. Ende 2017 hat er dort mit den ersten Operationen einer Skoliose begonnen. In der Klinik mit 280 Betten werden nicht nur endoskopische sowie minimalinvasive Operationen durchgeführt, sondern auch Zweitoperationen und Revisionen vorangegangener Operationen sowie eine interventionelle Schmerztherapie angeboten werden. Bereits im vergangenen Jahr habe es Planungen gegeben, die Blockwoche Orthopädie für Studierende des ACH in Wiesbaden stattfindenzu lassen. „Vielleicht klappt das jetzt bald“, stellt der Wirbelsäulenexperte abschließend in Aussicht, und ergänzt: „Sogar für die Unterbringung wäre gesorgt. Davon abgesehen freuen wir uns immer, wenn sich Studierende bei uns melden. Und bei unseren Forschungsprojekten springt sicherlich die eine oder andere Doktorarbeit raus.“

Mit der Vorlesung am 6. Mai endete nach dreieinhalb Jahren die Ringvorlesung „Asklepios Centers of Excellence am ACH“. In den Jahren 2017 bis 2021 haben sich 29 Mal die Experten die Klinke in die Hand gegeben und den Studierenden am ACH Einblicke in ihre Exzellenzzentren gegeben. Ein ausführlicher Rückblick folgt in Kürze.

Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH 2017-2021

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