Prominent besetztes Podium am ACH zu Corona und Patientenversorgung

Zum Abschluss der Vorlesung Hygiene II für die Studierenden des 8. Semesters am Asklepios Campus Hamburg der Semmelweis Universität (ACH) wurde am 30. April bei der traditionellen Podiumsveranstaltung das aktuelle Thema „Wie hat Corona die Versorgung der Patienten in der Praxis und Klinik verändert?“ online diskutiert.

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Moderator Dr. Jochen Kriens, Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hamburg, hier bei der letzten Präsenzveranstaltung 2019 am ACH.

Dr. Jochen Kriens, Leiter der Abteilung Politik und Öffentlichkeitsarbeit und Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hamburg, Dozent des Blockseminars und gleichzeitig Organisator der Podiumsdiskussion, bezeichnete die Veranstaltung, in der aktuelle Fragen im Gesundheitswesen diskutiert werden, als Höhepunkt des Seminars. Nach der Theorie der letzten Stunden diene die Diskussionsrunde mit Vertreter:innen verschiedener Gesundheitsinstitutionen dazu, die Praxisrelevanz des Gelernten anschaulich und den Meinungsbildungsprozess im Gesundheitswesen deutlich zu machen. Dabei habe sich das diesjährige Thema quasi aufgedrängt. Die vier Podiumsteilnehmer:innen stellte Dr. Kriens durch ihre vorab eingeholten Statements vor:

  • Dr. med. Sebastian Wirtz, Chefarzt der Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin, Schmerztherapie der Asklepios Klinik Barmbek, Hamburg, stellvertretender Ärztlicher Direktor und Vorstand der Arbeitsgemeinschaft in Norddeutschland tätiger Notärzte e.V. (AGNN):  "Die starke Fokussierung auf Corona benachteiligt die Versorgung von Patienten in der Regelversorgung durch eine Reduktion durchgeführter Operationen; dies führt auch zu der Verschlechterung von Therapieergebnissen bei Grunderkrankungen durch verzögerte Behandlung.“ 
  • Dr. med. Dirk Heinrich, niedergelassener HNO-Arzt in Hamburg, Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hamburg und Sprecher der Ärztlichen Leiter des Hamburger Impfzentrums: "Coronatests und Impfungen neben dem Normalbetrieb stellen eine enorme Herausforderung für die Praxen dar. Dabei ist das Impfen der Ausweg aus der Corona-Pandemie. Den Menschen ihre Angst davor zu nehmen, liegt in der Verantwortung aller Beteiligten aus Wissenschaft, Politik, Ärzteschaft und Medien." 
  • Walter Plassmann, Jurist, Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg: „Die Pandemie hat zu einem spürbaren Rückgang des Patientenaufkommens in den Arztpraxen geführt. Vor der Pandemie gab es immer wieder Diskussionen um unnötige Arztbesuche wegen Bagatellen. Solche Besuche sind in den vergangenen Monaten entfallen. Gerade die Kassenärztlichen Vereinigungen und hierunter ganz besonders die KV Hamburg sind an vorderster Front in die Pandemiebekämpfung eingebunden. Hieraus sollte eine stärkere Position der niedergelassenen Ärzte- und Psychotherapeutenschaft im Gesundheitswesen resultieren – vor allem, was den Stellenwert der Selbstverwaltung und des selbständigen, in eigener Praxis arbeitenden Arztes und Psychotherapeuten angeht."
  • Katrin Schmieder, Betriebswirtin, Leiterin der DAK-Landesvertretung Hamburg: "Als Krankenkasse können wir nach über einem Jahr Pandemie genau sehen, dass viele Menschen medizinische Versorgung vermeiden. Das bezieht sich auf akute Beschwerden ebenso wie auf Vorsorgeuntersuchungen. Das wird Auswirkungen auf die zukünftigen Krankheitsbilder und Versorgungsbedarfe haben. Beispiele dafür sind verspätet versorgte Schlaganfälle, später diagnostizierte Krebsdiagnosen, unbehandelte Entwicklungsverzögerungen bei Kindern, spätere zahnärztliche Behandlung etc. Die Selbstverwaltung hält aktuell ein Stück weit die Luft an. Wenn man in der Vergangenheit auf Basis von IST-Daten des Vorjahres verhandelt hat und Budgets anhand von jährlichen Steigerungsraten angepasst hat, so wird dieses zunehmend schwieriger, weil es weder der aktuellen und vermutlich auch nicht der zukünftigen Versorgungssituation gerecht wird. Das Gesundheitssystem wird zudem absehbar mit seinen Finanzmitteln weiter unter Druck geraten. Es bleibt auf jedem Fall spannend!" 

Einmütigkeit in der Bewertung der Situation

Podiumsdiskussion Hygiene am ACH
Dr. med. Sebastian Wirtz ist Chefarzt der Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin, Schmerztherapie der AK Barmbek.

Spannend – diese Zuschreibung galt auch für die darauf folgenden 60 Minuten. Die Fragen von Dr. Kriens nach den Erfahrungen aus den vergangenen 14 Monaten und die Nachfragen der Studierenden führten zu einem interessanten Gedankenaustausch. Dabei wurde in diesem Jahr im Vergleich zu vorangegangenen Podiumsveranstaltungen weniger kontrovers diskutiert. Die Einmütigkeit in der Bewertung der Situation machte dafür deutlich, dass alle Player vor allem das eine gemeinsame Ziel verfolgt hatten, nämlich die Pandemie zu besiegen. Dabei hatte Corona die unterschiedlichen Bereiche jeweils vor ganz eigene Herausforderungen gestellt. Dr. Wirtz beispielsweise bestätigte, dass durch die intensive politische und öffentliche Diskussion viele Menschen oft zwingend notwendige Operationen vermieden hätten. Ein Grund sei gewesen, dass sie nach eigener Aussage dem Gesundheitssystem nicht zusätzlich zur Last fallen wollten. Ein weiterer, dass sie eine Ansteckung im Krankenhaus befürchtet hatten. Der Chefarzt beruhigte an dieser Stelle: „98% der Mitarbeitenden im Krankenhaus sind mittlerweile durchgeimpft, seit Anfang Februar hatten wir keinen Ausbruch mehr und sind damit durch die zusätzlichen Tests einer der sichersten Orte, die man begehen kann. Wir sehen einfach, welchen Schutz die Impfungen bieten. Daher müssen wir jetzt den Patient:innen Mut machen, dass sie bei uns sicher sind.“ Sein Fazit: Es wurde und wird medial zu schmal berichtet, bewertet und diskutiert. Dies habe zu vielen Ängsten geführt. Umso wichtiger sei eine gute Aufklärung und Berichterstattung.

Sichtbare Folgen der Pandemie

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Dr. Dirk Heinrich (HNO-Arzt, links bei der letzten Podiumsdiskussion in Präsenz am ACH) ist aktuell einer der Leiter des Hamburger Impfzentrums.

Bei den niedergelassenen Ärzte habe sich laut Dirk Heinrich eine neue Entwicklung gezeigt: „Zu uns kommen mittlerweile viele Patient:innen mit sichtbaren Folgen der Pandemie wie Tinnitus oder Angststörungen. Für letztere ist allein schon ein Impfangebot die beste Therapie. Aber die Terminvergabe ist aufwändig, und wir haben noch mehr als 65 Prozent der Bevölkerung zu impfen. Das beschäftigt uns noch Wochen bzw. Monate in Zeiten, in denen wir in den Praxen keinen Überhang an medizinischem Fachpersonal haben“, beschrieb der HNO-Arzt seinen Alltag. In seiner Funktion als Leiter des Hamburger Impfzentrums ergänzte er: „Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir überhaupt Impfstoff haben und die altersspezifischen Inzidenzen so rasch nach unten gehen? Wir müssen den Impferfolg viel mehr hervorheben. Das würde zu einer höheren Akzeptanz von Impfungen führen. Und gleichzeitig die öffentliche Diskussion um die vermeintlich zusätzlichen und nicht genutzten Impfdosen beenden. Diese Kontroverse führt doch zur ärztlichen Verantwortung und damit zum eigentlichen Kern unseres Berufes: Jeder Impfarzt haftet persönlich für jede einzelne Impfung, die er verabreicht. Die siebte Dosis liegt nun einmal außerhalb der Zulassung. Aber ich möchte, dass die Menschen im Impfzentrum wissen, dass sie das richtige Mittel in der richtigen Dosierung bekommen.“

Chronisch kranke Menschen kommen nicht zu Kontrollbesuchen

Podiumsdiskussion Hygiene am ACH
Walter Plassmann ist Vorstandsvorsitzender der KV Hamburg.

Walter Plassmann erinnerte an dieser Stelle an die Zeiten vor Corona: „Bis zu Beginn der Pandemie haben wir uns jahrelang den Kopf zerbrochen, wie wir die Gesundheitskompetenz der Menschen steigern und Arztbesuche wegen Bagatellen vermeiden könnte. Jetzt beklagen wir, dass chronisch erkrankte Menschen nicht mehr zu Kontrollbesuchen kommen. War Corona jetzt der Umschwung? Gibt es künftig eine andere Wahrnehmung und Inanspruchnahme der Ärzte?“ Auf jeden Fall rechne er damit, dass die KV, „der unbekannte Riese“, durch ihre aktive Rolle in der Pandemiebekämpfung mehr in den Fokus der Politik gerückt sei. Sie habe gezeigt, dass sie als Organisation in der Lage sei, große Dinge wie ein Test- oder Impfzentrum auf die Beine zu stellen. „Politik und Bevölkerung werden uns auch künftig in die Pflicht nehmen“, vermutet der Vorstandsvorsitzende. Und das werde dringend nötig sein. Ginge es nach ihm, würden bereits heute Vorbereitungen für eine mögliche nächste Pandemie getroffen werden, in der Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte und Behörden über kluge Schnittstellen besser zusammenarbeiten könnten.

"Das geht mal einen Monat gut, aber nicht mehr als ein Jahr"

Podiumsdiskussion Hygiene am ACH
Katrin Schmieder nahm als Leiterin der DAK-Landesvertretung Hamburg an der Diskussionsrunde teil. © DAK

Über die Datenlage der Hamburger Patient:innen gab schließlich Katrin Schmieder Auskunft: „Wir kriegen mit einem gewissen Zeitverzug alle Daten und sehen so, wer wann wo beim Arzt war. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Art der Leistung verändert hat. Gerade bei chronischen Patienten sind Behandlungen ins Stocken geraten. Dies gilt genauso für die Zahnprofilaxe und U-Untersuchungen bei Kindern sowie die allgemeine Krebsvorsorge. Gleichzeitig haben wir explodierende Diagnosen von Psychischen Belastungen. Die Krankheitstage haben sich verdoppelt. Viele Arbeitnehmer:innen sind mehr oder weniger freiwillig ins Home-Office gegangen. Dort ist der Küchentisch der Schreibtisch und der Küchenstuhl der Bürostuhl. Das geht mal einen Monat gut, aber nicht mehr als ein Jahr. Die Folgen sind häufig Rückenleiden, Kopfschmerzen, Migräne etc. Wir plädieren daher für ein Bewusstsein der Führungskräfte, dass auch sie da Verantwortung tragen. Wir begleiten alle Maßnahmen und Möglichkeiten über unsere Hotlines und versuchen, so gut es geht unsere Mitglieder zu informieren.“

„Wann werden wir die Pandemie wohl überwunden haben?“, lautete die letzte bange Frage aus der Reihe der Studierenden. In der Summe klangen die Antworten Mut machend: „Wir könnten im Herbst durch sein...“, „wenn wir nicht aus irgendeinem Winkel der Erde eine weitere Mutante bekommen,“ „...dabei alle Impfstoffe bekommen, die uns zugesagt worden sind“, „... und gelernt haben, in irgendeiner Form unabhängig von der Frage nach der Inzidenz mit dem Virus zu leben.“ Abschließend dankte Dr. Kriens den vier Podiumsteilnehmer:innen für die rege Diskussion und den Studierenden, dass sie auch unter online-Bedingungen aktiv und interessiert an seinem Seminar zu vertragsärztlichen Bedingungen teilgenommen hätten. „Es ist mir jedes Mal wichtig zu vermitteln, was es bedeutet, Arzt oder Ärztin zu sein, in welchem tollen Gesundheitssystem wir leben und was die einzelnen Beteiligten dazu beitragen“, beschrieb der Pressesprecher seine Motivation. Am Ende der Podiumsdiskussion übernahm es Dr. Birgit Berger, Sprecherin des Lehrkoordination-Teams am ACH, Herrn Dr. Kriens herzlich dafür zu danken, dass er jedes Jahr diese hochkarätig besetzte und spannende Podiumsdiskussion für die Studierenden am ACH möglich mache.

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