Auch Casanova geriet in die Selbstwertkrise

Chefarzt Dr. Uwe Wutzler vom Asklepios Fachklinikum Stadtroda über sexuelle Störungen und ihre häufig psychischen Ursachen

Stadtroda, den 01. 07. 2018. „Wenn man die Medien verfolgt, muss man eigentlich von einer weitgehenden sexuellen Liberalität und Enttabuisierung ausgehen“, sagt Dr. Uwe Wutzler. Der Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin am Asklepios Fachklinikum Stadtroda verweist auf Online-Partnervermittlungen, die beispielsweise das Fremdgehen ermöglichen, oder eine Plattform für Verabredungen einander völlig fremder Menschen zum Sex darstellen.

„Gleichzeitig beobachte ich als Kliniker, dass die Fähigkeit zur Bindung und zur Hingabe an einen Partner abnimmt“, sagt Dr. Wutzler. Für die Betroffenen entstehe ein immenser Leidensdruck: „Die Hingabefähigkeit, die das sexuelle Erleben wesentlich prägt, leidet – und somit auch die Lebensqualität.“ Der Chefarzt geht davon aus, dass etwa die Hälfte der seelisch erkrankten Patienten auch sexuelle Probleme haben. „Psychische Störungen sind immer auch Beziehungsstörungen, die häufig auch sexuelle Schwierigkeiten in der Partnerschaft verursachen“, erläutert er.

Gerade in langjährigen Partnerschaften könne dies, etwa im Rahmen einer Depression, beispielsweise zu sexueller Lustlosigkeit führen, bei Männern häufig unter anderem auch zu Impotenz, ohne dass eine organische Ursache feststellbar wäre. „Männer versuchen es häufig mit Viagra, aber die Beziehung bleibt trotzdem gestört. Die oft unrealistischen Erwartungen lassen sich nicht mit einer blauen Pille auflösen“, gibt Dr. Wutzler zu bedenken.

Häufig sei es so, dass Männer Potenz mit Selbstvertrauen gleichsetzen und dass häufiger Sex ihr Selbstbewusstsein steigert. „Im Alter von 50 oder 60 Jahren setzen mit der oft abnehmenden Potenz häufig auch Selbstwertkrisen ein“, sagt Chefarzt Wutzler. Er verweist auf den legendären Frauenverführer Giacomo Casanova, der mit fortschreitendem Alter immer übellauniger geworden sein soll. Dieser habe offenbar aufgrund von nachlassender Manneskraft unter einer „verbittert-morosen Verstimmung“ gelitten, heißt es in der Fachliteratur. „Sexualität ist als Selbstwerttonikum auf Dauer wohl ungeeignet“, so die Schlussfolgerung.

Das mag auch für jene Patienten gelten, die wegen einer Depression in Behandlung sind, bei denen sich aber nach und nach herausstellt, dass gleichzeitig auch sexuelle Probleme bestehen. Der Grund sind nicht selten überzogene Erwartungen an Sex, die aber häufig nicht mehr altersgerecht sind. Schuldgefühle, Kränkungen, ein verletztes Selbstwertgefühl und Scham spielen hier oft eine Rolle. Gleichzeitig halten gerade bestimmte Fernseh- oder Online-Formate Bilder von perfekten, attraktiven Körpern präsent, die phantasmagorische Vorstellungen von ebenso perfektem Sex evozieren.

Manche Männer finden ihre Partnerin nicht mehr attraktiv genug und schauen sehnsüchtig Anderen hinterher, oder sie fühlen sich innerhalb der Partnerschaft nicht mehr geliebt und beachtet. Einige beginnen zu trinken. Frauen entwickeln ihrerseits häufig um die Wechseljahre herum Hingabestörungen. Die Gründe liegen häufig in einem sich verändernden Hormonhaushalt, in Veränderungen des Körpers und in dem Gefühl, nicht mehr attraktiv genug zu sein.

„Hier sollten gemeinsam neue Wege gesucht werden“, rät Dr. Uwe Wutzler. Die Partner sollten lernen, sich wieder aufeinander einzustellen. „Wichtig ist es, innerhalb der Partnerschaft darüber zu sprechen. Es hilft, wenn man dem Partner seine Kränkungen und Beschämungen anvertraut. Das verbindet mehr, als es trennt“, so seine Überzeugung.

Doch wie findet jemand, der an einer Depression leidet und dessen Selbstwertgefühl angekratzt ist, überhaupt den Mut, sich mit der Partnerin oder dem Partner auszusprechen? „Selbstwertkrisen und Scham sind häufig Bestandteile einer Depression. Psychotherapie hilft, Scham abzubauen“, erklärt Chefarzt Dr. Wutzler.

Wichtig sei es, dass sich die Patienten wieder auf ihre Partnerin oder ihren Partner einlassen. „Der Vorteil von älteren Paaren ist es doch oft gerade, dass jeder weiß, was der andere braucht“, sagt Dr. Wutzler. Freilich gebe es Paare, denen es nicht mehr gelingt, zueinander zu finden. Andere finden gerade durch eine solche Krise heraus, dass es sich lohnt, zusammenzubleiben.

Kontakt

Dr. Uwe Wutzler
Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin
Tel.: (036428) 56 1462
E-Mail:
u.wutzler@asklepios.com

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