Digitale Identität als Teil des Selbst

Dr. Michael Kroll: Digitale Medien wirken auf Kinder und Jugendliche „wie Reaktionsbeschleuniger“

Kinder und Jugendliche haben ihre eigene digitale Identität, die sich Eltern oder Lehrern nicht automatisch erschließt. Als „Digital Natives“, das heißt, als Angehörige jener Generation, die mit dem Internet aufwächst, sind elektronische Medien, wie Computer, Tablets und vor allem Smartphones für Heranwachsende nicht erst seit der Corona-Pandemie Teil ihrer selbstverständlichen Lebenswelt.

Für Dr. Michael Kroll, Chefarzt der Klinik für Kinder- und  Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie wirken digitale Medien auf Kinder und Jugendliche „wie Enzyme“. Sie fungieren gleichsam als „Reaktionsbeschleuniger“, die, je nach individueller Ausgangslage, günstige oder ungünstige Entwicklungen befördern können.

Neben vielfach benannten Gefahren, wie etwa der Online- und Computerspielsucht, für die es in Stadtroda eine eigene Spezialambulanz gibt, sieht Dr. Kroll in der Digitalisierung nicht zuletzt auch eine Chance, sich klug zu vernetzen und vielfältig gedanklich auszutauschen – sowohl im privaten als auch im innerfamiliären und schulischen Bereich.

Die Crux hierbei: Kinder und Jugendliche kennen sich in der digitalen Welt weit besser aus als Eltern und Lehrer, was von letzteren die Bereitschaft abverlangt, sich gemeinsam mit den Heranwachsenden in diese Welt hineinzubegeben, etwa indem Erwachsene sich für die Online-Spiele ihrer Kinder interessieren und sich mit Streaming-Diensten, wie „Youtube“ oder Online-Diensten, wie „Instagram“ oder „Tellonym“ beschäftigen.

Wer auf „Tellonym“ angemeldet ist, bekommt von anderen Teilnehmern Fragen, oft sehr persönlicher oder intimer Art gesendet, die es zu beantworten gilt. „Instagram“ etwa dient vielen Jugendlichen als eine Art öffentliches Tagebuch und Plattform gleichsam narzisstischer Selbstdarstellung. Hier stellen Jugendliche insbesondere Fotos ein, die sie in einem besseren Licht erscheinen lassen.  Männliche und weibliche Klischees werden hierin vielfach überzeichnet. So präsentieren sich Mädchen gern super sexy, während männliche Jugendliche das Image des „harten Kerls“ pflegen.

Die Spitze des Eisbergs markiert für Dr. Kroll exemplarisch der Fall der Schülerin Rebecca Reusch. Seit Februar 2019 wird das Mädchen vermisst. In der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ wurde öffentlich nach ihr gesucht – unter Verwendung eines Instagram-Bildes, das so aufgehübscht war, dass es mit der wirklichen Rebecca nur wenig Ähnlichkeit hatte.

Dr. Kroll sieht in Online-Diensten und sozialen Netzwerken nicht zuletzt die Gefahr von Mobbing gegeben: „Selbst wer im realen Leben nicht unbedingt zum Opfer wird, der kann online durch einen ungeschickten Schachzug durchaus zum Opfer werden“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Zudem seien digitale Identitäten klebrig. Hier verweist er etwa auf selbstmordgefährdete Patienten, die während des Klinik-Aufenthalts häufig gut stabilisiert werden können, dann aber oft wieder von Kontakten aus Suizid-Foren im Internet belagert würden.

Etwa seit Anfang des Jahrtausends spielt die digitale Komponente eine zunehmende Rolle bei der Identitätsbildung von Jugendlichen. „Der Begriff Identität steht im Zentrum der Pubertät“, betont Dr. Kroll. Wer bin ich? Wer will ich sein? Diese Fragen treiben die Jugendlichen nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit ihrer eigenen Geschlechtlichkeit um. Bei aller Toleranz und Vielfalt seien manche Jugendliche durch Posts und Videos zur Gender-Diversität verunsichert, was ihre eigene sexuelle Identität angeht.

Die allgegenwärtige Verfügbarkeit und Nutzung von Online-Inhalten habe zudem auch den Umgang vieler Jugendlicher mit Sexualität verändert.  Neben „herkömmlicher“ Pornographie bietet das Netz auch Zugang zu Hardcore-Pornos, die insbesondere von männlichen Teenagern teilweise für „normalen Sex“ gehalten werden.

„Wir Erwachsenen haben oft gar keine richtige Ahnung, was wirklich gefährlich ist und sind oft sehr naiv. Die meisten Erwachsenen wissen nicht, was Grooming ist oder was Sexting ist“, betont Kinder- und Jugendpsychiater Kroll. Als Grooming bezeichnet man die gezielte Anbahnung sexueller Kontakte in Missbrauchsabsicht. Sexting ist die private Kommunikation über sexuelle Themen über Online-Messenger-Dienste, häufig auch das Versenden von Nackt-Selfies.

Auch abseits der Extreme werden Schattenseiten verstärkter Online-Nutzung deutlich: Konzentrationsschwächen, Schlafstörungen oder Kurzsichtigkeit. Im Zusammenhang mit der Schulzeitverkürzung im Abitur von 13 auf 12 Jahren in vielen Bundesländern beschrieb die Schülerin Yakamoz Karakurt bereits 2011 in der „Zeit“, dass bei vielen Schülern „der Kopf voll“ sei. „Sie betont, dass neben der ausufernden Schulvor- und -nachbereitung nur noch die digitalen Medien blieben“, sagt Dr. Kroll.

In puncto digitale Ablenkung vom Alltagsstress sind viele Erwachsene ihren Kindern zudem keine guten Vorbilder. Anstatt für ihre Kinder ansprechbar und präsent zu sein, sind manche Eltern trotz körperlicher Anwesenheit nicht selten eher mit ihrem Smartphone beschäftigt als mit ihren eigenen Kindern.

Kontakt:

Dr. Michael Kroll
Chefarzt Kinder- u.  Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik u. Psychotherapie
Tel.: (036428) 56 13 53
E-Mail: mi.kroll@asklepios.com

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