Geschichte der Multiple Sklerose (MS)

Die Geschichte der MS ist auch die Geschichte der Entwicklung der Neurologie. Ausgehend von den beiden Mutterdisziplinen Innere Medizin und Psychiatrie hat sich die Neurologie - befördert durch neue diagnostische und insbesondere auch durch verbesserte therapeutische Möglichkeiten - in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts zu einer aufstrebenden, eigenständigen medizinischen Disziplin entwickelt und zählt mittlerweile zu den innovativsten und forschungsintensivsten medizinischen Fachgebieten – die Proklamation  der 90-er Jahre zur „Decade of the Brain“ legt davon Zeugnis ab.

Die MS als eigene Krankheitsentität ist erst seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Dennoch ist davon auszugehen, dass bereits im Mittelalter Menschen unter MS litten – so beschrieb der Holländer Jan van Beieren im Jahr 1421 Symptome bei der Nonne Lydwina von Schiedam, die für MS typisch sind. Auch Heinrich Heine (1797 – 1856) hat an dieser Erkrankung gelitten mit einer 1832 aufgetretenen vorübergehenden Lähmung beider Hände, 1837 einem beidseitigen vorübergehenden Verlust der Sehkraft und ab 1846 einer fortschreitenden Lähmung der Beine, Müdigkeit und Doppelbildwahrnehmung, was ihn zu der Äußerung veranlasste: „Ich arme unbegrabene Leiche – Matratzengruft…“ (Stenager 1996).

Die entscheidenden Fortschritte in der Beschreibung und Eingrenzung der MS wurden im 19. Jahrhundert erzielt – zu dieser Zeit begannen mehrere Wissenschaftler mit der Erforschung dieser vielschichtigen Erkrankung. Heute gilt der Pariser Neurologe und Psychiater Jean-Martin Charcot als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der MS – Forschung. Durch seine exakten und umfassenden Beschreibungen seiner Erkenntnisse brachte der das Wissen um die MS entscheidend voran. So verfasste er im Jahr 1868 die erste komplette Abhandlung über die MS und stellte den Zusammenhang mit pathologischen Befunden her. Er war es auch, der erstmals den Ausdruck „sclerose en plaques“ einführte. Charcots Erkenntnisse finden sich noch heute im klinischen Sprachgebrauch – beispielsweise als „Charcot Trias“, der Kombination von Nystagmus (rhythmisches Augenzittern), Intentionstremor (Händezittern bei gezielten Bewegungen) und skandierende Sprache als diagnostischen Hinweis auf eine MS.

In den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts waren viele Aspekte der MS bereits bekannt. Es fehlte jedoch noch eine systematische Ordnung der Erkenntnis. Im Jahr 1930 publizierte Walter Russell Brain erstmals Hypothesen zu Ursachen und Pathologie sowie Auftreten und Verlauf der MS in systematischer Form in seiner Abhandlung zur „disseminierten Sklerose“.

Im Jahr 1944 entdeckte Derek Denny-Brown, welche neuronalen Strukturen für die neurologischen Ausfälle bei der MS verantwortlich sind. In Experimenten konnte er zeigen, dass eine beschädigte Nervenfaser den elektrischen Impuls nicht mehr leiten kann. Daraus ließ sich ableiten, dass die so genannten „Demyelinisierung“ eines Nervs für die Leitungsblockade verantwortlich ist.

In den folgenden Jahren konnten in der MS – Diagnostik bedeutende Fortschritte erzielt werden. So wurden in den 60-er- und 70-er Jahren spezielle Liquortests entwickelt: Bei der so genannten Gel-Elektrophorese wandern die auf ein aktives Immunsystem hinweisenden Immunglobuline (Antikörper) in Abhängigkeit von ihrer elektrischen Ladung oder Größe in einem elektrischen Feld unterschiedlich schnell bzw. weit – somit findet man bei aktiven Immunprozessen charakteristische Muster (oligoklonale Banden).

Ebenfalls in den 70-er Jahren hielt die Computertomographie Einzug in die MS-Diagnostik und deren Verlaufsbeurteilung. Im Jahr 1972 führten Halliday und seine Arbeitsgruppe die elektrophysiologische Methode der visuell evozierten Potenziale (VEP) zur nicht-invasiven Untersuchung des Sehnervs und der Sehbahn ein.

Ein revolutionärer Durchbruch gelang 1981 durch die Arbeit von Ian Young und dem Einsatz der Kernspintomographie (MRT). Durch die Darstellung von MS – Herden auf hochauflösenden Aufnahmen wurde die Diagnostik früher MS – Stadien verbessert und eine exaktere Verlaufsbeurteilung ermöglicht.

Die 90-er Jahre brachten mit der Einführung neuer Medikamente Fortschritte in der Therapie der MS. Erstmals wurden 1993 in den USA Beta-Interferone für die MS-Therapie zugelassen, in Deutschland erfolgte die Einführung 1995. Drei Jahre nach Zulassung des ersten Interferons erhielt Glatirameracetat ebenfalls die Zulassung zur Behandlung der MS in den USA und im Jahr 2001 auch in Europa. Zur Eskalations-Therapie sind Natalizumab (seit 2006) und Mitoxantron (seit 2003) zugelassen.

Eine internationale Expertengruppe um Ian McDonald († 2010) erarbeitete zur Diagnose der MS ein neues Schema und veröffentlichte dies in 2001. Gestützt auf den objektiven Nachweis einer räumlichen und zeitlichen Ausbreitung nach klinischen und MRT – Befunden sollen die so genannten McDonald-Kriterien die Zuverlässigkeit der Diagnose erhöhen. Sie gestatten unter Berücksichtigung festgelegter Kriterien die MS – Diagnose bereits nach dem ersten klinischen Schub und ermöglichen damit einen noch früheren Therapiebeginn. Die letzte Revision der McDonald-Kriterien erfolgte in 2010.

Intensive Forschungsbemühungen in den letzten 5 – 10 Jahren liefern auch immer mehr Erkenntnisse über die bei MS ablaufenden Mechanismen. So wurde herausgefunden, dass es bei MS nicht nur zu einem Verlust von Markscheiden kommt, sondern auch zu einer Schädigung und einem Verlust von Nervenfasern und Nervenzellen (Degeneration) auch während der schubfreien Zeiten der Erkrankung. Dieser Prozess führt dann schließlich zum chronischen Verlauf der Erkrankung mit unterschiedlich stark ausgeprägter Behinderung und erklärt teilweise die so genannten unsichtbaren Symptome der MS – Erschöpfung und kognitive Störungen.

Die aktuelle Situation stellt sich heute wie folgt dar: Glatirameracetat und 4 Beta – Interferone werden nach wie vor erfolgreich zur Basistherapie der schubförmig verlaufenden MS eingesetzt, vervollständigt durch die Therapien für die hochaktive Verlaufsform Natalizumab, Fingolimod, Alemtuzumab und Mitoxantron, wobei diese Präparate aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils einer besonders sorgfältigen Begleitung bedürfen. Diese Therapien bieten andererseits eine zusätzliche Option nach erfolgloser Behandlung mit Basistherapeutika oder bei bereits zu Beginn der Erkrankung hochaktiver MS.

Seit 2013 bzw. 2014 stehen mit Dimethylfumarat und Teriflunomid 2 weitere oral zu verabreichende Substanzen als Alternative zu den bisherigen Basistherapeutika zur Verfügung und weiter Substanzen stehen zur Zulassung an.

Die Behandlung der MS wird damit immer komplexer und erfordert von den behandelnden Ärzten zunehmend Expertenwissen und setzt eine umfassende Betreuung der Patienten voraus.

Einerseits erfolgt dies durch Patientenorganisationen wie der DMSG, der dabei ein langjähriges großes Engagement bescheinigt werden kann. Andererseits sind spezialisierte Zentren wie hier in Teupitz unverzichtbar – hier erhalten MS – Patienten neben der ärztlichen Betreuung auch durch speziell geschulte MS – Schwestern, Neuropsychologen, Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäden und Sozialarbeiter Unterstützung bei Therapie aber auch bei den vielschichtigen Problemen der Krankheitsbewältigung.

Gleichzeitig können durch die Teilnahme an vielen nationalen und internationalen Studien und Projekten die aktuellsten Entwicklungen in Therapie und Diagnostik direkt an die Patienten weitergegeben werden und der Erfolg gibt uns recht: gegenwärtig befinden sich mehr als 1000 MS – Patienten in unserer Betreuung!

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