"Die Seele geht zu Fuß"

Klinikseelsorger sind für Patienten eine besondere Anlaufstelle – insbesondere in Psychiatrien. In der Asklepios Psychiatrie Niedersachsen in Göttingen schenken Pastor Wolf-Friedrich Merx und der katholische Diplom-Theologe Gisbert Nolte den Betroffenen Zeit und Gehör und bieten dadurch ein wichtiges Zusatzangebot, das Therapien wertvoll ergänzt.

In der auf dem Klinikgelände befindlichen Lukaskirche halten Merx und Nolte Gottesdienste ab, sofern es die Pandemie zulässt. Beide binden den besonderen Ort allerdings auch in ihre Gesprächsangebote ein.

Die junge Frau sitzt schweigend auf dem Stuhl. Ihre Schultern sind leicht nach vorn gebeugt, ihr Körper wirkt spannungslos. Ohne jegliche Regung im Gesicht lässt sie den Blick durch den Raum wandern. Kein Wort, kein Räuspern. Stille. Und das seit 45 Minuten. Gisbert Nolte (59) hat schon viel erlebt während seiner rund vierjährigen Tätigkeit als Seelsorger am Asklepios Fachklinikum Göttingen. Aber eine Patientin, die seit Beginn ihres Aufenthalts kein Wort äußert – das ist auch für den katholischen Theologen neu. „Ich versuche immer wieder Kontakt zu ihr herzustellen, ohne auch nur einen Ansatz von Druck zu erzeugen. Keiner weiß, was dieser Frau widerfahren ist. Sicher ist nur: Selbst eine herabsinkende Feder kann zu viel Ballast für eine verletzte Seele sein. Deshalb ist es wichtig, dieses Verhalten nicht zu bewerten oder zu verurteilen“, sagt der Katholik. „Die Seele geht zu Fuß“, betont Nolte, „und manchmal braucht es einfach Zeit und sehr viel Feingefühl, bis sich ein Mensch öffnet.“

Gemeinsam mit seinem evangelischen Kollegen, Pastor Wolf-Friedrich Merx (64), bietet Nolte Patienten, Angehörigen, aber auch Asklepios Mitarbeitern tagtäglich Gespräche und Begleitung an. „Wir sind für die Menschen da, wir haben Zeit für sie - ganz gleich, welcher Religion sie angehören oder ob sie überhaupt gläubig sind“, sagt Wolf-Friedrich Merx, der seit fast 15 Jahren am Fachklinikum arbeitet. Der Familienvater versteht sich in erster Linie als Zuhörer und „professioneller Zeithaber“: „Solch ein Angebot zu unterbreiten ist extrem wichtig in einer Gesellschaft, in der ein Termin den nächsten jagt und alle das Gefühl haben, gehetzt zu sein.“ Rund 45 bis 50 Minuten dauert eine Sitzung bei den Klinikseelsorgern. „Und gelegentlich brauchen Menschen auch mal 20 Minuten, um loszulassen, sich zu entspannen und sich auf das Gespräch einzulassen“, berichtet Merx.

Bewegende Schicksale

Unter welchen Erkrankungen die Patienten leiden, die zu ihnen kommen oder ihren Besuch wünschen, wissen die Seelsorger dabei meistens nicht. „Das ist nicht unser Metier und für die seelsorgliche Begleitung auch nicht ausschlaggebend“, sagt Merx, „doch mit der Zeit verfügt man natürlich über einen gewissen Erfahrungsschatz und merkt gewiss auch, wenn man beispielsweise Teil einer Wahnvorstellung wird.“ Dann könne es hin und wieder ratsam sein, in Absprache mit dem Patienten Kontakt zum sehr engagierten Klinikpersonal aufzunehmen. „Grundsätzlich sind wir der seelsorglichen Verschwiegenheit verpflichtet. Das ist auch wichtig, um das Vertrauen der Patienten nicht zu enttäuschen. Je nach Krankheitsbild können manche Patienten sehr misstrauisch sein“, so der Pastor.

Und wie verkraften die Seelsorger persönlich die Geschichten ihrer Klienten? Die nicht seltenen Berichte von Schicksalsschlägen, Einsamkeit, Ängsten und Krankheit? „Im Rahmen unserer Ausbildung haben wir verschiedene Techniken wie beispielsweise die Supervision erlernt, um abschalten zu können und das Berichtete nicht mit nach Hause zu nehmen“, sagt Gisbert Nolte. Das klappe in der Regel sehr gut. Doch hin und wieder träume er von den Ereignissen in der Psychiatrie. „Im Rahmen der Gespräche mit den Menschen erlebt man häufig eine tiefe Erschütterung der Seele. Die Lebensschicksale, die sich hier bündeln, gehen sicherlich nicht spurlos an einem vorbei. Doch wir können die Betroffenen ermutigen.

Wir können sie auffangen, stützen und sind immer gesprächsbereit. Daraus ziehe ich eine unglaubliche Kraft und Dankbarkeit“, sagt der Theologe.

Zusatzbelastung Pandemie

Beide Klinikseelsorger stehen zudem in engem Austausch. „Wir arbeiten nach dem Prinzip der Ökumene und widmen uns den Patienten und Gesprächspartnern nicht etwa konfessionsabhängig, sondern religionsübergreifend, sofern nichts dagegenspricht. Das ist sicherlich etwas Besonderes, von dem wir auch persönlich profitieren“, sagt Merx. Der 64-Jährige wird bald in den Ruhestand gehen, spürt allerdings, wie wichtig es ist, dass seine Arbeit fortgesetzt wird. „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Fachklinikum machen einen wirklich tollen Job, vor dem ich den allergrößten Respekt habe“, sagt Merx. „Die Klinikseelsorge kann das Angebot mitunter jedoch sinnvoll ergänzen und steht natürlich auch dem Personal offen, das im Alltag ebenfalls stark belastet ist.“ Dabei müssten keinesfalls Lebens- und Glaubensfragen diskutiert werden. „Im Gegenteil. Manchmal hilft es auch, einfach nur zusammen zu schweigen – gerade in Zeiten wie der Corona-Pandemie.“

Die seit über einem Jahr anhaltende Ausnahmesituation habe insbesondere Patienten, aber auch viele Genesene in ein tiefes Loch gestürzt, berichtet Gisbert Nolte: „Gerade zu Beginn der Pandemie waren wir in unserer Rolle als Klinikseelsorger sehr stark gefordert und haben alles darangesetzt, den extrem einsamen Menschen, die häufig alleine oder in Heimen leben, einen Halt zu bieten.“ Nur langsam habe sich die Lage stabilisiert. „Doch die Pandemie ist längst nicht vorüber. Umso wichtiger ist es, auch weiterhin für die Menschen da zu sein, ihnen Hoffnung zu geben und sie zu begleiten.“

Zeit schenken, einfach nur zuhören – das werde auch in Zukunft entscheidend sein, ist sich Wolf-Friedrich Merx sicher: „Wir alle sollten uns Momente zugestehen, in denen wir innehalten. Denn eines habe ich in den bald 15 Jahren meiner Tätigkeit am Fachklinikum gelernt: In allen Dingen, die die Seele betreffen, lässt sich nichts beschleunigen.“

Kontakt

Asklepios Psychiatrie Niedersachsen GmbH

Asklepios Fachklinikum Göttingen, Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn

Akademische Lehrkliniken der Universitätsmedizin Göttingen
Rosdorfer Weg 70
37081 Göttingen
E-Mail: poststelle.goettingen@asklepios.com
www.asklepios.com/goettingen

Klinikseelsorge an der Asklepios Psychiatrie Niedersachsen GmbH

Pastor Wolf-Friedrich Merx
Tel.: (0551) 402-2883
E-Mail: w.merx@asklepios.com 

Dipl. Theologe Gisbert Nolte
Tel: (0551) 402-2881
E-Mail: g.nolte@asklepios.com

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