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Wenn nichts mehr geht

Oft ist es nicht die Arbeit, die Menschen ausbrennen lässt, sondern die Vernachlässigung ihrer Ressourcen. Dem Wichtigsten schenken sie meistens am wenigsten Beachtung: ihrem Bedürfnis nach Bindung.
Anja Jardine
(Leonhard Rothmoser)

(Leonhard Rothmoser)

Der Klassiker: Um neun Uhr abends, beim routinemässigen Check des Smartphones, findet sich noch eine Nachricht in der Mailbox: «Sitzung morgen eine halbe Stunde früher. X wird auch anwesend sein. Es gibt alternative Konzeptvorschläge.» Die Amygdala, unser archaisches Alarmsystem, reagiert prompt: Der Puls wird hochgefahren, die Blutgefässe werden verengt, Cortison ausgeschüttet. Der präfrontale Kortex, zuständig für die Regulation von Emotionen, kann die Signale normalerweise übersteuern. Wenn die Angst allerdings zu gross ist und der Mensch erschöpft, wird der Einfluss dieser sehr viel jüngeren Hirnregion kleiner. Kampf oder Flucht – schon zwölf Stunden bevor Säbelzahntiger X ins Büro kommt, sind wir zum Sprint bereit.

Neurowissenschaft und Medizin haben die Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit in zahlreichen Studien belegt. Einer erholsamen Nachtruhe ist er nie zuträglich. Vielleicht hilft ein Glas Wein oder auch zwei, nicht selten nur noch die Schlaftablette. Am nächsten Tag sitzt der geschlauchte Mitarbeiter am Konferenztisch, den Tunnelblick nur noch auf ein Ziel gerichtet: «regret aversion». Bloss nichts sagen oder tun, was einem zum Nachteil gereichen könnte. Je mehr Angst in einem Unternehmen herrscht, desto weniger herrscht Kreativität; sie ist biologisch quasi nicht mehr möglich.

Der Wille läuft ins Leere

Kommen solche Situationen über Monate oder Jahre ständig vor, verliert das Herz irgendwann seine Fähigkeit zum geschmeidigen Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung; die Gefässe bleiben verengt, der Blutdruck hoch. Immer hartnäckiger verweigert sich der Schlaf. Wird der Mangel chronisch, schwächt es das Immunsystem, begünstigt Diabetes, Herzinfarkt, Depressionen. Antidepressiva helfen über den Tag. Für Sport und Bewegung bleibt keine Zeit, für geregelte Mahlzeiten sowieso nicht: Gegessen wird tagsüber wenig, abends zu fett und zu viel. 4 bis 7 Jahre dauert es gemäss Fachleuten in der Regel, bis aus all dem eine Krankheit wird.

Laut Job-Stress-Index 2016, den die Gesundheitsförderung Schweiz ermittelt hat, erlebt jeder vierte Erwerbstätige am Arbeitsplatz Belastungen, die höher sind als seine Ressourcen. Die Arbeitgeber kosten die Leistungseinbussen rund 5,7 Mrd. Fr. pro Jahr, wobei auch der Präsentismus eingerechnet wurde, also die Einbussen durch jene Mitarbeiter, die zwar anwesend sind, aber nicht viel mehr als das. Auch in Deutschland verzeichnen die Krankenkassen seit fünfzehn Jahren eine Zunahme stressbedingter Erkrankungen. Statistisch entfallen dort von den gut 15 Fehltagen pro Kopf und Jahr 2,5 Tage auf psychische Beschwerden wie Depressionen, Angst- und Belastungsstörungen. Im Management am stärksten betroffen sind die Führungskräfte auf den mittleren Rängen, wie eine Studie des Instituts für angewandte Innovationsforschung (IAI) an der Ruhr-Universität Bochum 2010 belegt.

Der Chef sitzt da, unfähig eine Entscheidung zu treffen oder auch nur fünf Zeilen zu formulieren. Er verliert mitten im Satz den Faden oder hat Wutausbrüche, kann nicht mehr priorisieren. Er muss immer mehr Kraft aufwenden, um seine Konzentrationsschwäche zu verbergen. Er bleibt abends länger, um aufzuholen, schläft kaum noch, steht im Morgengrauen auf. Familie und Freunde bleiben auf der Strecke. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Die Wochenenden dienen bestenfalls dazu, ein Minimum an Funktionstüchtigkeit wiederherzustellen, von Lebenskraft oder gar Lebensfreude kann nicht mehr die Rede sein. Doch zunehmend läuft der Wille ins Leere, die Härte gegen sich selbst greift nicht mehr – so kennt er sich nicht. «Er erlebt eine totale Entfremdung von sich selbst», sagt Stefan Büchi, ärztlicher Direktor der Privatklinik Hohenegg in Meilen. «In diesem Zustand ist er auch nicht mehr in der Lage, mit anderen Menschen adäquat zu interagieren.» Irgendwann geht gar nichts mehr.

Eine Patientin habe noch vor achtzig Leuten einen Vortrag gehalten und sei dann auf dem Weg hinaus einfach umgefallen, unfähig wieder aufzustehen. Sie musste mit dem Krankenwagen eingeliefert werden. Der Akku war leer. Nicht selten sei es auch der Lebenspartner, der die Notbremse ziehe: «Entweder du suchst dir endlich Hilfe, oder ich gehe.» Und erstaunlich oft, sagt Büchi, sei es ein kleiner Unfall, der das Fass zum Überlaufen bringe; jemand stürze die Treppe hinunter oder verursache einen Autounfall. Wenn danach keine Regeneration mehr möglich sei, die Betroffenen partout in keinen normalen Modus zurückfänden, kämen sie in die Klinik. «Anfangs meist contre cœur», sagt Büchi. «Die Diskrepanz zwischen dem Idealbild, das sie noch vor kurzem verkörpert haben, und dem Elend, das sie jetzt erleben, erzeugt eine unerträgliche Spannung: Ein emotionaler Zustand, der mit so grossem psychischem Schmerz verbunden ist, dass in vielen Fällen Suizidalität droht. Es ist der Verlust ihrer Selbstmächtigkeit, den viele nicht ertragen.»

Vom Körper abgekoppelt

In den ersten zwei, drei Wochen in der Klinik geht es nur darum, wieder zu Kräften zu kommen, einen Rhythmus zu finden: essen, schlafen, spazieren gehen, ruhen. «Wer zu uns kommt, hat meist jedes Gespür für sein körperliches Wohlbefinden verloren: Was tut mir gut, wann bin ich überfordert, in welcher Situation fühle ich mich wohl, wann brauche ich eine Pause?» Ein achtsamer Selbstbezug sei jedoch die Grundvoraussetzung, um sich durch das Leben navigieren zu können; «alles, was uns jeden Tag widerfährt, jede Emotion, findet eine Spiegelung im Körper». Den abzukoppeln, sei gefährlich.

Selbst jene, die auf ihre Ernährung achteten oder Marathon liefen und ihre Leistungen in Excel-Tabellen erfassten, handhabten ihren Körper kognitiv und leistungsorientiert. Sie wären nicht in der Lage, ihre Herzschlagfrequenz nach Gespür zu justieren. Erst wenn die Pulsuhr Alarm gibt, drosseln sie das Tempo. Abgesehen davon, sehen sie weder, welcher Baum blüht, noch riechen sie das frisch gemähte Gras. Die Sinneswahrnehmung ist verarmt.

«Die Achtsamkeit ist ein radikaler Impuls», sagt Büchi. «Sie ermöglicht nicht nur Stressreduktion, sondern auch Selbsterkenntnis und Mitgefühl.» Doch oft brauche es zwei oder drei Krisen, bis die Menschen so weit seien, sich mit ihren inneren Treibern auseinanderzusetzen. «Denn die zentrale Frage lautet früher oder später: Wo stehe ich im Leben? Was treibt mich eigentlich an?»

«Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale begünstigen Burnout: Perfektionismus, Ehrgeiz, hohe Ansprüche, Leistungswille», sagt Jochen von Wahlert, ärztlicher Direktor der Psychosomatischen Privatklinik Bad Grönenbach in Bayern, die sich auf die Behandlung von Führungskräften spezialisiert hat. Diese Merkmale seien an sich kein Problem; Arbeit und auch positiver Stress seien vitalisierend, liessen uns Grenzen austesten, wachsen. «Entscheidend aber für die seelische Gesundheit ist die Fähigkeit, mit Niederlagen umgehen.» Wenn Misserfolge einen Menschen infrage stellten, werde das Eis dünn.

Ungnädige innere Antreiber

«Die Wurzeln dafür liegen oft im Biografischen: Kinder produzieren Erfolg und Leistung als Antwort auf die Frage: Bin ich liebenswert? Auf Niederlagen reagieren sie mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen.» Die inneren Antreiber seien bei diesen Menschen viel schärfer und ungnädiger als die äusseren, so von Wahlert.

Übung 2: Treppen steigen

jar. Wenn Sie das nächste Mal Treppen steigen, tun Sie es langsamer als sonst. Nehmen Sie eine Stufe nach der anderen, und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Beinarbeit und die Atmung. Beobachten Sie genau, welchen Teil des Fusses Sie aufsetzen, in welcher Reihenfolge Sie welche Muskeln anspannen, ob Sie sich hochstemmen oder hochziehen und wo genau Sie die Anstrengung spüren. Entscheiden Sie sich für einen bestimmten Atemrhythmus – zum Beispiel, über zwei Stufen tief einatmen, über zwei Stufen ausatmen. Dann ändern Sie den Rhythmus, und schauen Sie, was passiert.

Und die äusseren? Es sei meist gar nicht die Arbeit selber, die krank mache, sondern der Kontext. Als wie sinnvoll empfinde ich meine Arbeit? Wie viel Handlungsspielraum habe ich? Wie transparent läuft alles ab? Wie verstehe ich mich mit den Mitarbeitern? In Zeiten des Wandels zerrieben sich besonders die «Sandwich-Manager» zwischen den Vorgaben von oben und den Erwartungen von unten. «Sie stecken zwischen zwei Loyalitäten», sagt von Wahlert, sie müssten authentisch agieren, auch dann, wenn sie inhaltlich einmal nicht hinter der neuen Zielrichtung stünden.

Er habe lange mit den Bereichsleitern einer Bank zusammengearbeitet, die von einer anderen übernommen worden war, sagt von Wahlert, der zwanzig Jahre in der Unternehmensberatung tätig war. Einige der «Überlebenden», also jener die noch immer an Bord waren, hätten ähnliche Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Soldaten nach einem Einsatz gezeigt. Das Gefühl der Bedrohung höre nicht mehr auf.

«Interessanterweise hatten auch jene, die von der übernehmenden Bank gekommen waren und die Massnahmenpläne entwickelt hatten, ein Problem», sagt von Wahlert. Ein Vorstand habe zu ihm gesagt: «Ich bin der harte Hund, den man während der Kriegshandlungen braucht. Solche Leute entsorgt man normalerweise hinterher. Ich muss jetzt schauen, dass ich hier eine andere Kultur hineinbringe.»

In den Chefetagen herrsche oft Einsamkeit, sagt von Wahlert. Viele Manager zögen sich stark zurück, gäben kaum noch etwas von sich preis. Speziell bei den CEO sei oft das Problem, dass sie «kein soziales Korrektiv mehr haben und ungehemmt auch sehr schwierige Seiten ausleben und entwickeln können, aber in letzter Konsequenz seelisch vereinsamen, sogar entkultivieren, weil Regulativ und Vernetzung fehlen. Auch so etwas wie Demut, die man in Beziehungen lernen kann, fehlt ihnen. Sie werden autistisch, weil sie nur noch ihre eigenen Ansichten verkünden und nichts mehr annehmen können». Laut einer Studie der Universität von Michigan neigen Führungskräfte dazu, sich selbst eine gewisse Überdurchschnittlichkeit zuzuschreiben, was die Verständigung mit Mitarbeitern schwierig mache.

Dabei sei ihre Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, zentral, nicht nur für die eigene seelische Gesundheit, sondern für die aller im Unternehmen. Schon der Bankmanager Alfred Herrhausen sagte: «Wer sich selbst nicht zu führen versteht, kann auch andere nicht führen.»

Achtsamkeit in der Wirtschaft

Warum schulen immer mehr Konzerne und mittelständische Unternehmen ihre Führungskräfte in Achtsamkeit? Worin liegen Potenzial und Grenzen der ursprünglich buddhistischen Geistesschulung für die Wirtschaft?

Alle Folgen der Serie Achtsamkeit in der Wirtschaft finden Sie hier.